[Eine Tangente zu dieser Diskussion – Fragt nicht. Scrollt. – und eine Folge der Vorstellung, dass Design die gezielte Beeinflussung von Eigenschaften sei.]
Intelligenter Entwurf oder Evolution? Geht es um das Leben auf der Erde, ist dies eine Frage nach der Weltanschaung, die viele mit Aussagen der Wissenschaft, einige mit einem Glaubensbekenntnis und manche mit Zweifeln beantworten. Für Artefakte wie ein Auto, einen Computer oder ein Stück Kreide hingegen scheint sie Sache klar: der Mensch hat sie geschaffen, diese Gegenstände sind Ergebnisse bewusster Entwicklungsprozesse. Wie könnte man daran zweifeln?
Doch so einfach ist die Sache nicht. Wer etwa je eine Softwareentwicklung aus der Nähe betrachtet hat, wird den Begriff der Software-Evolution für selbstverständlich halten. Angesichts agiler Entwicklungsmethoden – man lernt und verfeinert die Anforderungen unterwegs und sie können sich unterdessen auch ändern – bleibt diese Evolution nicht auf die Wartungsphase nach einer initialen Entwicklung beschränkt. Ist Software ein Entwurfs- oder ein Evolutionsprodukt?
Noch einen Schritt weiter treibt die Informatik das Evolutionsprinzip mit evolutionären Algorithmen (anschaulich erklärt von Marcus Frenkel: Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4). Diese Verfahren lösen Optimierungsprobleme nach dem Vorbild der Evolution, indem sie geeignet kodierte Lösungskandidaten über mehrere Generationen hinweg mutieren, rekombinieren und nach Eignung selektieren. Ausgehend von anfangs zufällig gewählten Parameterkombinationen findet der Algorithmus auf diese Weise bessere Lösungen des jeweiligen Problems. Sind die so gefundenen Lösungen noch das Produkt schöpferischen Handelns?
Das Problem liegt nicht in der Informatik, sondern es ist grundsätzlicher Natur. Stellen wir uns ein Stück Kreide und eine Tafel vor und nehmen wir an, wir könnten einen Menschen identifizieren, der Kreide und Tafel erfand. Die Kreide staubt beim Schreiben. Welcher Idiot erfindet staubende Kreide? Die Antwort lautet: keiner. Diese Eigenschaft der Kreide hat niemand bestimmt, es handelt sich um einen Nebeneffekt einer Entwurfsentscheidung – hier: der Auswahl eines Materials – die der Erfinder bestenfalls hingenommen, vielleicht aber auch gar nicht betrachtet hat. Ein von Menschenkopf geschaffener Gegenstand hat Eigenschaften, die ihm kein Mensch gegeben hat.
Und wenn wir uns auf erwünschte und bewusst herbeigeführte Eigenschaften beschränken, finden wir dann wenigstens einen Entwurf? Nein, auch dies lässt sich nicht sagen. Das Fahrrad zum Beispiel, mit dem ich fast jeden Tag ins Institut fahre, hat zwei Räder. Sie sind gleich groß und rund; sie bestehen jeweils aus Nabe, Speichen, Felge und Luftreifen; das Vorderrad trägt in der Naben einen Dynamo und das Hinterrad ein Getriebe. Wer hat sich das ausgedacht? In dieser Form niemand. Die Räder meines Fahrrades in der vorliegenden Gestalt sind das vorläufige Ergebnis eines Jahrtausende währenden Prozesses kleiner Veränderungen und Optimierungen. Betrachten wir nur das Ergebnis, vergessen wir leicht den Weg dorthin: die vielen Fehlversuche zum Beispiel, vom Holzscheibenrad bis zur Hartgummibereifung, oder die alternativen Konstruktionen, die für andere Anwendungsgebiete besser, für dieses jedoch schlechter geeignet sind. Das Rad gibt es nicht, sondern verschiedene Spezies von Rädern mit gemeinsamen Wurzeln.
Mit einer Beschreibung als Entwurfsprozess werden wir der Genese meines Hinterrades kaum gerecht. Wir können weder ein Individuum noch eine Gruppe identifizieren, die diesen Prozess zielgerichtet bewirkt hätte. Diejenigen, die einst als erste Rollen unter einen Schlitten legten, um sich die Arbeit beim Ziehen zu erleichtern, hatten keine Ahnung, dass es jemals so etwas wie Fahrräder geben würde. Und der Hersteller meines Fahrrades hat gewiss nicht das Rad erfunden, um eine reibungsarme Fortbewegung zu ermöglichen.
Die Räder meines Fahrrades sind Ergebnisse einer langen und langsamen Evolution. Eine Evolution zeichnet sich dadurch aus, dass sie etwas in einer langen Folge kleiner, nicht vorausgeplanter Schritte optimiert. In jedem Schritt wir der Lösungsraum durch Variation des Vorhandenen erkundet; ein Selektionsprozess verwirft – statistisch – weniger taugliche Varianten und erhält mutmaßlich bessere. Der Evolutionsprozess kann sich auch mal in der Sackgasse eines lokalen Optimums verlaufen, aber er wirkt nicht auf Instanzen, sondern auf Gesamtheiten.
Wir können nicht einfach etwas entwerfen, ohne uns von den Ideen und Irrtümern aus Jahrtausenden unserer Kulturgeschichte beeinflussen zu lassen. Alles was wir entwerfen, gründet sich auf frühere Entwürfe anderer und kann, wenn es nicht als Irrweg in Vergessenheit gerät, seinerseits Ausgangspunkt für Ideen anderer werden. Jeder Gegenstand, den ein Mensch entwickelt, erbt Eigenschaften früherer Entwicklungen anderer, und vererbt seinerseits Eigenschaften an seine Nachfolger. Um die Gestalt und Funktionsweise eines von Menschenhand und -kopf geschaffenen Artefakts zu erklären, benötigen wir deshalb beide Sichten, die des Entwurfs und jene der Evolution. Es handelt sich dabei nicht um einen Gegensatz, sondern um eine Kombination verschiedener Blickwinkel, die nur im Zusammenspiel eine befriedigende Erklärung liefern, vergleichbar etwa dem Welle-Teilchen-Dualismus in der Physik.