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Plattform, mit Betonung auf platt

Digitale Plattformwirtschaft gilt der Bundesregierung als großes Ding, seit sie bemerkt hat, dass wir keine eigene haben. Um diese Lücke zu schließen, fördert Berlin Plattformprojekte. Zum Universalleuchtturm Gaia-X, dessen Anwendungen von Chatbots für das eGovernment bis zur Krebsheilung reichen sollen, kommen die Themen der einzelnen Ressorts. Das Verkehrsministerium fördert, naheliegend, die Mobilitätsplattform Stadtnavi, die nicht weniger verspricht als Mobilität gemeinsam neu zu denken. Das Ergebnis ist Asche, nämlich ein notdürftig als Plattform verkleideter Karten- und Routenplanungsdienst, der seine Claims statt auf die Hauptsache direkt auf Nebengebiete wie Open Data, Open Source und Datenschutz legt. Zu kurz kommt wie so oft die Nutzerorientierung und damit das, was andere Plattformen erfolgreich macht.

Der Fairness halber sei gesagt, dass Stadtnavi nach eigener Aussage noch nicht fertig ist und das Projektbudget mit 370.000 Euro überschaubar bleibt. Gleichwohl lässt sich bereits eine Richtung erkennen. Stadtnavi bietet im Wesentlichen einen Karten- und Navigationsdienst, der verschiedene Verkehrsträger berücksichtigt und der mit Echtzeitdaten zum Beispiel über freie Parkplätze, Ladestationen, Mitfahrgelegenheiten, Busverspätungen und so weiter angereichert wird. Richtig verpackt sind solche Dienste unbestritten nützlich, das zeigen die Navigationssysteme in vielen Autos, Karten- und Navigationsapps für Smartphones sowie der DB Navigator. Anders als der DB Navigator, der auch Fahrkarten verkauft und Bahnreisende unterwegs unterstützt, bleibt Stadtnavi jedoch auf der Metaebene: Man kann sich dort über Mobilität informieren, sonst nichts.

Gemessen am eigenen Anspruch, für saubere Luft zu sorgen, wie auch an den Erfolgsvoraussetzungen für ein Plattformgeschäft drückt man sich vor der eigentlichen Herausforderung: Mobilität nutzerorientiert anders zu organisieren. Dazu müsste man nicht nur irgendwas mit Internet machen, sondern echte und konkurrenzfähige Mobilitätslösungen bieten. Messen lassen müssen sich solche Angebote am Auto, das bei vielen Menschen vor der Tür steht und darauf wartet, gefahren zu werden. Das Auto vor der Tür befriedigt bequem und flexibel eine breite Palette an Mobilitätsbedürfnissen. Wer sich einmal daran gewöhnt hat, einfach einzusteigen und loszufahren, findet kaum einen Anlass, sich überhaupt über Alternativen zu informieren. Wer es dennoch tut, wird häufig in seiner Entscheidung für das Auto bestärkt. Mit Ausnahme der Schnellbahnsysteme in Großstädten und Ballungsräumen bleibt der öffentliche Nahverkehr der individuellen Fortbewegung – einschließlich Fahrrad und Taxi – oft unterlegen.

So verwundert nicht, dass eine kommerzielle Plattform wie Uber, in deren Motivation saubere Luft so wenig eine Rolle spielt wie die Arbeitsbedingungen ihrer scheinselbständigen Fahrer, einen Taxidienst anbietet. Ein Ubertaxi ist so bequem wie das eigene Auto vor der Tür, erspart einem jedoch den Ärger damit und steht im Gegensatz zum eigenen Auto auch am Zielflughafen auf Wunsch vor der Tür. Ob man Uber deswegen auch gestatten sollte, an die Stelle der bisherigen Taxiwirtschaft mit ihrem vergleichbaren Angebot zu treten, sei dahingestellt. Jedenfalls bieten alte wie neue Taxis heute echte Mobilitätsplattformen mit einem Smartphone-Interface, die digital eine Schar mehr oder minder unabhängig arbeitender Dienstleister koordiniert.

Erfolgreiche Plattformen vernetzen Anbieter und Kunden so, dass für alle ein Mehrwert entsteht. Von Amazon zum Beispiel bekomme ich einen Online-Shop für fast alles, was man überhaupt kaufen kann. Manches liefert Amazon selbst, anderes kommt von unabhängigen Händlern, die (auch) über Amazon verkaufen. Mir erleichtert Amazon das Leben, weil ich einmal bestelle und dann in den nächsten Tagen Klemmstifte für die Heizung aus der Oberlausitz, Ersatzteile für meine Fahrradtaschen aus dem Schwarzwald und eine Fahrradbremse aus dem Amazon-Lager geliefert bekomme. Den Händlern nimmt es einen Teil des Shop-Betriebs ab und führt ihnen Kunden zu. Amazon sorgt dafür, dass das alles reibungslos funktioniert. Analog bekomme ich von Apple, Google oder Microsoft nicht einfach ein Gerät oder ein Betriebssystem, sondern Appstores, aus denen ich mir über viele Anbieter hinweg meine Anwendungslandschaft zuammenklicke und Updates bekomme.

Eine echte und nützliche Mobilitätsplattform müsste dasselbe tun und die Verkehrsbedürfnisse ihrer Nutzerinnen und Nutzer besser und einfacher befriedigen als ohne sie. Ein Ansatz dazu ist die echte Vernetzung verschiedender Verkehrsträger nicht nur in Form integrierter Navigation und Fahrplanauskunft, sondern zu einem nützlichen Mehrwertdienst. Möchte ich zum Beispiel nach Frankfurt oder über Frankfurt irgendwohin fahren, muss ich erst einmal zum Bahnhof kommen. Ich wohne zwischen zwei etwa gleich weit entfernten Strecken, auf denen jeweils S-Bahnen und Nahverkehrszüge und auf einer auch nutzbarer Fernverkehr fahren. Die ÖPNV-Anbindung ist in einer Richtung besser als in der anderen, und unabhängig davon etwa einen Kilometer Fußweg entfernt. Mit einem eigenen Fahrzeug, das ich am Bahnhof parke – egal ob Fahrrad oder Auto – beschränke ich mich für die Rückfahrt auf eine der beiden Strecken. Mit einem Rollkoffer im Schlepp fällt das Fahrrad aus und ein eigenes Auto habe ich gar nicht.

Möglicherweise könnte ich mich für eine Plattform begeistern, die mir in dieser Situation das Denken und Organisieren abnimmt. So einer Plattform würde ich einfach sagen, dass ich jetzt nach Frankfurt möchte. Daraufhin bekäme ich die Antwort: „Kein Problem, kostet 25 Goldstücke, Sie werde in zehn Minuten abgeholt. Dürfen wir Sie am Zielort noch irgendwo hinbringen?“, oder auch: „Um die Ecke steht ein freies Mietfahrrad. Wenn Sie darauf spätestens halb drei gen Westen reiten, bekommen Sie die nächste Regionalbahn oder notfalls ein paar Minuten später die nachfolgende S-Bahn. Möchten Sie das Rad bis dahin reservieren?“ Für die zweite Variante fehlt es meiner Kleinstadt an Mieträdern, die gibt es nur in der größeren Nachbarstadt. In der ersten wüsste der Fahrer, der mich abholt, dass ich mit der Bahn weiter möchte und zu welchem Bahnhof er mich bei der aktuellen Verkehrslage fahren soll. In beiden Fällen hätte sich jemand Gedanken gemacht, was mein Mobilitätsbedarf ist, wie er sich befriedigen lässt und wie das für mich möglichst einfach wird. Dafür jedoch etwas mehr nötig als nur Auskünfte.

Nützlich machen könnte sich eine Mobilitätsplattform auch in Ausnahmesituationen. Unsere alltägliche Mobilität ist stark von Gewohnheiten geprägt. Wir fahren so oft zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Verwandten und Freunden oder zu regelmäßigen Freizeitbeschäftigungen, dass wir darüber nicht mehr nachdenken, sondern alles wie immer tun. So mancher ist schon versehentlich Samstags zur Arbeit gefahren, weil er irgendwohin wollte, der Anfang des Weges derselbe war und dann der innere Autopilot übernahm. Manchmal haben wir jedoch ungewöhnliche Bedürfnisse, müssen mehr transportieren als das Fahrrad schafft, organisieren eine Familienfeier mit dezentralen Übernachtungen und mehreren Ortswechseln oder müssen eine Zeit überbrücken, in der das eigene Fahrzeug nicht verfügbar ist oder aus sonst einem Grund alles nicht wie gewohnt funktioniert.

Mit intelligenten Angeboten für solche Situationen bekäme eine Mobilitätsplattform vielleicht auch bei jenen einen Fuß in die Tür, die sich sonst gewohnheitsmäßig ins eigene Auto setzen und das auch noch täten, wenn der Benzinpreis bei fünf Euro und die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen bei 80 km/h läge. Denken wir noch einmal an Amazon: In seiner Jugend konnte der Konzern bei vielen Kunden damit punkten, dass er englischsprachige Bücher ohne Umstände lieferte. Heute sind dort noch viel mehr Dinge zu bekommen, die man in Geschäften und Kaufhäusern vor Ort vergebens sucht. Fotopapier, Feuerpoi, Fahrradständer – alles kein Problem. So etwas kommt heraus, wenn man mit einer Plattform Geld verdienen möchte, so dass man gezwungen ist, sich mit Nutzerbedürfnissen auseinanderzusetzen und echte Vorteile zu verkaufen. Aus ehrgeizarmen Förderprojekten kommt dagegen so etwas wie Stadtnavi, immer und immer wieder.