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Reality Check für Alice und Bob

Kryptografie ist hauptsächlich ein Zweig der Mathematik. Um ihre Probleme und Lösungen anschaulich zu beschreiben, verwenden Kryptografen gerne eine Modellwelt aus abstrahierten, aber anthropomorphisierten Akteuren: Alice, Bob und so weiter. Die Bewohnerinnen dieser Modellwelt möchten gemeinsam irgendetwas mit Daten tun, ohne dass andere davon erfahren oder eingreifen können. Dabei helfen ihnen die Algorithmen der Kryprografen.

Das ist alles prima, solange man nicht vergisst, dass man in Wirklichkeit nur an Bausteinen für Sicherheitsarchitekturen arbeitet. Es geht zuverlässig in die Hose, sobald man vergisst, dass die reale Welt komplizierter ist als die abstrakte Erklärhilfe. Ersetzt man Alice, Bob und die übrigen Akteure durch reale Menschen oder Organisationen, wird man noch lange keine brauchbaren Lösungen für irgendein Sicherheitsproblem erhalten.

Diese Lektion lernt gerade die International Association for Cryptologic Research: Für ihre Wahlen zu Vereinsämtern nutzt sie das Online-Wahlsystem Helios, das alle möglichen Sicherheitsanforderungen geheimer und manipulationsresistenter Wahlen mit kryptografischen Mitteln zu erfüllen versucht. Das hat kryptografisch ein wenig zu gut funktioniert, denn nach dem Ende der Wahl bekommen sie ihr Ergebnis nicht entschlüsselt – eine/r der „Notare“ hat seinen geheimen Schlüssel versiebt.

Mit einem auf die realen Anforderungen zugeschnittenen System wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Wahlen müssen nicht nur die einzelnen Stimmabgaben geheim halten und den unverfälschten Wählerwillen erfassen, sondern sie müssen auch robust gegen Störungen sein und auf (fast) jeden Fall ein Ergebnis liefern. Auf diesen Trade-off hat die Kryptografie keine Antwort, sie ignoriert Ziele wie die Verfügbarkeit oder Robustheit systematisch und konzentriert sich auf Vertraulichkeit und Integrität.

In der realen Welt stellt sich nicht nur das Problem etwas komplexer dar als in der Welt von Alice und Bob, sondern auch der Lösungsraum ist größer und hat mehr Dimensionen. Kleine Ungenauigkeiten etwa kann der statistische Prozesse einer Wahl oft verkraften und vor umfangreichen systematischen Manipulationen kann nicht nur Kryptografie schützen. Bei dezentralen Wahllokalen zum Beispiel wächst aufgrund der Bewegungskosten oder der erforderlichen Mittäter der Aufwand mit dem erzielbaren Effekt.

Der Kryptografie sind solche Erwägungen fremd, reale Sicherheitsarchitekturen hingegen leben davon. Selbst wenn ein System auf kryptografische Bausteine setzt und seine Sicherheit wesentlich von ihnen abhängig macht, muss man den Umgang mit Schlüsseln an den realen und nicht nur den theoretischen Anforderungen ausrichten. Auch für kryptografische Schlüssel gilt: Kein Backup – kein Mitleid!