Unterschätzte Risiken: Religion

Religion kann tödlich sein:

»Eine Zeugin Jehovas ist in einem Krankenhaus in Lich gestorben. Sie hätte dringend eine Bluttransfusion gebraucht, doch das ließ ihr Glaube nicht zu. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft. (…)«

(HR: Glaube verbietet Bluttransfusion: Musste Arzt Zeugin Jehovas sterben lassen?)

Seinem Leben ein Ende zu setzen, steht jedem zu, aber muss man anderen Leuten damit Ärger bereiten? Das ist mindestens unhöflich.

Update: Das scheint eine ganz undurchsichtige Geschichte zu sein.

10 Kommentare zu „Unterschätzte Risiken: Religion

  1. So sehr ich die Lehren der Zeugen Jehovas für verfehlt halte, so sehr steht es der Frau zu, aus jedem noch so absurden Grund die Behandlung abzulehnen, wenn sie das so will, und dies auch für den Fall, dass sie nicht mehr Herr ihrer Sinne ist, festzulegen.

    Inwiefern man damit anderen Leuten Ärger bereiten soll, ist mir allerdings unklar. Vielmehr bereitet hier doch die Staatsanwaltschaft Ärger: Woher diese den Anfangsverdacht nimmt, dass hier eine fahrlässige Tötung (vmtl. durch Unterlassen) vorliegen soll, wenn doch die Patientenverfügung vorgelegen haben soll, ist mir sehr suspekt.

  2. Den Anfangsverdacht halte ich für gerechtfertigt, und er bedeutet meines Wissens erst mal nur, dass die Staatsanwaltschaft eben die Sachlage prüft. Objektiv ist jemand im Krankenhaus gestorben und eine – offenbar begründet – unterlassene Behandlung hat daran ihren Anteil. Ehrlich gesagt möchte ich, dass so etwas untersucht wird, wenn es geschieht, sonst könnte ja jeder kommen und kurz mit einem Stück Papier wedeln.

    Ärger bereitet man anderen Leuten mit so etwas, weil sich das alles nicht im luftleeren Raum abspielt, weil man sie in eine Situation hineinzieht, für die sie nichts können. Ich habe es bewusst nur als unhöflich bezeichnet; darüber zu streiten, ob es ethisch vertretbar ist, halte ich für müssig. Nicht vergessen sollten wir allerdings, dass es hier nicht nur eine rechtliche Seite gibt. Ich kann mir vorstellen, dass die unfreiwillig hilflos Gemachten hier einer ähnlichen Belastung ausgesetzt sind wie etwa der Lokführer, der vor einem Selbstmörder nicht mehr bremsen kann. Und der Selbstmörder hat wenigstens noch sein Ableben in die Hand genommen.

  3. Wenn jemand kurz mit einem Stück Papier wedelt, handelt es sich nicht um eine Patientenverfügung. Gegen Patientenverfügungen wird leider schon viel zu viel verstoßen, weil man vermeintlich auszumachen glaubt, dass der Patient hinter dieser vielleicht nicht mehr stehen könnte. Wenn nun ein Arzt, der sich an eine Patientenverfügung hält, in die Nähe von Kriminellen gestellt wird, befürchte ich, dass sich der Trend noch mehr zum schlechten dreht.

    Es ist nunmal das Recht von jedem, eine ärztliche Behandlung – oder auch nur bestimmte Maßnahmen – abzulehnen, genauso wie jeder das Recht haben sollte, sich selbst zu töten, wenn er volljährig ist und zum Zeitpunkt der Entscheidung bei vollem Verstand und ohne psychische Krankheiten, welche die Urteilsfähigkeit in dem Punkt verringern.

    Eine Analogie zum Lokführer kann ich dabei nicht sehen: Der „Selbstmörder“, der sich vor den Zug wirft, hätte auch ein Vorgehen wählen können, bei dem er keinen dritten mit einbezieht. Wer hingegen krank in der Klinik liegt, dem kann ich doch nicht zum Vorwurf machen, wenn seine Entscheidung über seine eigene Behandlung den Arzt traurig macht. Ärzte sollten inzwischen gelernt haben, dass ihre Kunst nicht immer im vollen Umfang erwünscht ist, und sollten gelernt haben, damit umzugehen.

    Ich stimme Dir ja zu, dass es eine unerhört dumme Entscheidung ist, aufgrund religiöser Dogmen eine Behandlung abzulehnen. Aber solange jemand diese Entscheidung für sich selbst trifft, dann soll sie ihm gefälligst zustehen. Wenn im Gegenzug niemand versuchte, seine religiösen Überzeugungen auf mein Leben Einfluß haben zu lassen, wäre schon viel gewonnen.

  4. Ich frage mich bei sowas halt immer, was die Frau im Krankenhaus gesucht hat. Wenn man schon der Meinung ist, dass die Welt bald untergeht und ein unsichtbares rosa Einhorn .. pardon.. Gott alles regelt, warum dann überhaupt medizinische Hilfe in Anspruch nehmen? Ist das nicht Blasphemie?

    Gem. ihrer Sicht wollte Gott sie ja offensichtlich zu sich rufen und hat ihr die starken Blutungen verpasst. Vielleicht wollte er sie nur prüfen und weil sie die Prüfung nicht bestanden hat und ins Krankenhaus gelaufen ist, hat er sie zu sich geholt. etc.pp.

    Ich bin der Meinung „religiöse Gründe“ haben in keinem öffentlichen Diskurs etwas zu suchen (und auch nicht auf einer Patientenverfügung), denn sie können von anderen Leuten (mit anderer Weltanschauung) schlicht nicht nachvollzogen werden.

  5. Meine Güte, hier geht es ja auch nicht um einen öffentlichen Diskurs. Natürlich haben religiöse Gründe in der Diskussion um allgemeine Vorschriften oder Regeln nichts zu suchen. Aber ein Mensch, der für sich eine Entscheidung fällt, wird dabei immer auch sehr subjektive Gründe und Erwägungen haben, und dazu gehören durchaus und zu Recht auch religiöse Gründe.

    Es verlangt ja auch niemand von Dir, die Gründe nachzu*vollziehen*. Es reicht vollkommen, zu erkennen, dass es Leute gibt, denen dieses wichtig ist, und jedem zuzugestehen, dass er in seinem persönlichsten Lebensbereich seine Irrationalität ausleben kann.

    Natürlich ist es sinnvoll, in einer Patientenverfügung nicht nur (aber natürlich, sehr wichtig, auch) konkrete Vorgaben zu machen, sondern im Zweifel auch seine Beweggründe zu erläutern, da diese bei einer Interpretation der Verfügung hilfreich sein können, falls ein Fall eintritt, der nicht konkret und vollständig von der Verfügung erfasst ist. Wenn sie dem Leser unverständlich bleiben, hat man ja nichts verloren. Eine Patientenverfügung ist schließlich ein absoluter Gegenpol zu „öffentlichem Diskurs“; in ihr geht es nicht darum, im Wettstreit der Meinungen und offener Diskussion eine für die Gemeinschaft sinnvolle Auffassung zu finden, sondern gerade darum die privaten, persönlichen Macken für den Fall festzuhalten, in dem man die Entscheidung über sich selbst nicht mehr selbst treffen kann.

  6. Richtet man sich nur nach dem Gefühl, klingt das alles gut und richtig: persönliche Macken festhalten, Selbstbestimmung trotz Handlungsunfähigkeit, Patientenverfügung. Aber warum ist das eigentlich wichtig? Im richtigen Leben begeben wir uns laufend in Situationen, in denen wir freiwillig darauf verzichten, Entscheidungen über uns selbst zu treffen, und in denen wir mit weit höherer Wahrscheinlichkeit bei Verstand und Bewusstsein bleiben als in jenen Situationen, in denen eine Patientenverfügung relevant wird. Wir besteigen zum Beispiel Flugzeuge und nehmen ganz selbstverständlich hin, dass die Piloten unsere Ansichten darüber, wie wir richtig zu transportieren seien, nicht einmal anhören. Liegt der Unterschied zwischen dem Drang nach Selbstbestimmung und freiwilliger Auslieferung also in der Aussicht auf zwei Wochen Strandurlaub oder ein gutes Geschäft?

  7. Meine Güte, mach‘ Dich nicht lächerlich. Bei der Patientenverfügung geht es darum, dass ein Arzt seine diversen Körperverletzungen a.k.a. Behandlung nur vornehmen darf, wenn der Patient dem einwilligt bzw. im Falle eines nicht mehr ansprechbaren Patienten diese Einwilligung angenommen werden kann, Wowereit. Nun ist es gerade bei Krankenhausaufenthalten so, dass man sehr häufig den Patienten nicht mehr befragen kann und dann im Normalfall annimmt, dass diese jegliche Form von Behandlung begrüßen würde. Wenn man nun als potentieller Patient, und das ist jeder, diese Annahme für den Fall der Fälle korrigieren möchte, schreibt man eine Patientenverfügung. Dieses wird sogar schon relativ häufig getan in Hinblick darauf, dass viele auf diesem Weg festlegen wollen, dass „die Maschinen abgestellt werden sollen“, wenn keine Aussicht auf Heilung besteht. Aber es ist natürlich nicht auf diese Fälle beschränkt. Es ist auf jeden Fall in aller Regel so, dass man eine Patientenverfügung nicht für einen konkreten Krankenhausaufenthalt schreibt, sondern gerade auch für die Fälle, wo dieser z.B. nach einem Unfall oder Herzinfarkt, Schlaganfall, … spontan erfolgt.

    Wer nicht in ein Flugzeug einsteigen möchte, tut es nicht. Der durschnittliche Schwerverletzte fährt hingegen nicht selbst ins Krankenhaus.

  8. Fänden wir eine Patientenverfügung, die die Einlieferung ins Krankenhaus überhaupt untersagt, auch so akzeptabel? Oder würden wir uns, wäre tatsächlich jemand zu dieser selbstmörderischen Konsequenz fähig, vielleicht doch nach einem überzeugenden Grund umsehen, keine sterbenden Menschen herumliegen zu lassen? Und mit welchem Recht versuchen wir eigentlich, Selbstmorde zu verhindern, wo die Willensäußerung doch eindeutiger nicht sein könnte?

    Wie gesagt, ich will das Selbstbestimmungsrecht gerne akzeptieren, mich interessiert nur die Begründung, wenn es denn eine gibt.

  9. Und gleich noch ein Nachtrag: mit welcher Begründung akzeptieren wir stillschweigend die Einseitigkeit der Selbstbestimmung? Scheinbar liegt auf der Hand, dass jeder das Recht haben solle, eine Behandlung abzulehnen, aber wie steht es um das Verlangen einer bestimmten Behandlung? Wenn jemand im Krankenhaus nach Bachblüten verlangt, soll er die bekommen müssen? Wenn nicht, warum nicht?

  10. Wenn jemand eine Behandlung und den von mir beschriebenen Umständen vollständig ablehnt, so soll dies sein gutes Recht sein. Gleiches sollte IMHO auch für Selbstmorde gelten, sofern keine psychische Störung vorliegt, was wohl eher selten der Fall ist. Das schließt nicht aus, dass man in diesen Fällen argumentativ versucht, einen Selbstmörder von seinem Vorhaben abzubringen – dies kann man übrigens auch bei der Patientenverfügung im Vorfeld versuchen. Was das angeht, bin ich übrigens auch Befürworter der aktiven Sterbehilfe – es kann nicht angehen, dass gerade die nicht ihr Leben beenden können, die dazu aufgrund ihrer Leiden schon nicht mehr in der Lage sind.

    Die Selbstbestimmung ist übrigens auch nicht „einseitig“. Natürlich kann jeder nicht nur eine Behandlung ablehnen, sondern auch eine Behandlung – ob diese nun den Namen verdient, oder nicht – durchführen lassen. Die Asymmetrie besteht darin, dass es sich bei der Ablehnung um ein Abwehrrecht gegenüber allen, die wohlmeinend, aber nicht dem Willen ihres Opfers entsprechend. Körperverletzungen (i.e. Behandlungen) vornehmen, obwohl diese mangels Einwilligung nicht erlaubt sind – hier ist es eben wichtig, dies klar vorher auszusprechen, weil sonst fälschlich irgendwelche Annahmen gemacht werden.

    Eine konkrete Behandlung durchführen zu lassen, geht in aller Regel dadurch, dass man sich einen entsprechenden Arzt – oder bei „Behandlungen“, die den Namen nicht verdienen, Heiler oder was auch immer – sucht, der diese durchführt. Da man sinnvollerweise in der Patientenverfügung einen Menschen bestimmt, der für einen die notwendigen Entscheidungen zur Ausgestaltung dessen, was verfügt wurde, übernehmen soll. Eine ernsthaftere Variante, was man im Vorfeld festlegen könnte, ist, dass man lieber eine Schmerztherapie haben möchte, die ggf. das Leben verkürzt, als länger, aber mit starken Leiden zu leben.

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