Helmgegner gibt es gar nicht. Wie sich Risikodebatten selbst verzerren

Es gibt Debatten, die auch unter ansonsten vernünftigen Menschen leicht in Glaubenskriege ausarten. Ich rede nicht von Editorkriegen Emacs vs. Vi, sondern von Risikodebatten über Helme und Helmpflichten, über Klimawandel und Klimaschutz, über Nichtraucherschutz und Passivrauchen. Diese Diskussionen haben gemein, dass es zu Teilfragen wissenschaftliche Untersuchungen gibt, die Grundfrage aber eine politische oder praktische ist: was ist zu tun? Soll ich einen Helm tragen oder gar jeder einen tragen müssen? Sollen wir Kohlekraftwerke abschalten und Autos abschaffen? Rechtfertigen Gefahren des Passivrauchens Rauchverbote und wenn ja, in welchem Umfang?

Einige Elemente tauchen in solchen Diskussionen immer wieder auf, und es braucht einige Runden, bis man sie verstanden hat.

Da ist zuerst der unklare Frontverlauf. Helmdiskussionen etwa scheiden ihre Teilnehmer schnell in Befürworter und Gegner. Oder so scheint es wenigstens. In Wirklichkeit verläuft der Konflikt aber woanders, nämlich zwischen Aktivisten [oder Advokaten] auf der einen und Skeptikern auf der anderen Seite. Die Aktivisten sind davon überzeugt, dass etwas zu tun sei, nämlich ein Helm zu tragen, und sie sind außerdem davon überzeugt, dafür überzeugende Argumente zu haben.Die Skeptiker zeigen sich uneinsichtig. Daraufhin stampfen die Aktivisten mit dem Fuß auf, was die Skeptiker noch viel weniger überzeugt. Spätestens dann kann man die Diskussion vergessen, wenn sich nicht ausnahmsweise jemand findet, der sie effektiv moderieren kann.

Aktivisten sind nicht nur Befürworter, weil sie aktiv ein Handeln fordern. Wer das tut, muss stets darauf gefasst sein, dass andere das nicht wollen oder zunächst eine gute Begründung fordern. Skeptiker tun genau dies. Sie vertreten den Standpunkt, dass nichts zu tun sei, jedenfalls nicht zwingend aufgrund der vorgebrachten Argumente, und dass man über den Streitgegenstand nicht genügend wisse. Ein Helmskeptiker zum Beispiel wird die Empfehlung ablehnen, beim Radfahren (das ist der Klassiker, Skihelmdiskussionen sind Saisonware) einen Helm zu tragen. Mehr aber auch nicht. Dabei macht sich niemand die Mühe, zunächst herauszuarbeiten, welche Argumentationskette denn ein Handeln im Sinne der Aktivisten nahelegen würde, so sie sich mit Fakten untermauern ließe.

Aktivisten versuchen dabei, einen strategischen Vorteil zu nutzen, der aus der diskutierten Frage und der Rollenverteilung folgt. Sie identifizieren die eigentlich behandelte, aber nie klar formulierte Frage mit einer Teilfrage, die mehr oder weniger gut untersucht ist. Oft freilich weniger gut, zum Beispiel mit indirekten statistischen Methoden, die viel Raum für Interpretationen und Zweifel lassen. Die Skeptiker andererseits stehen vor dem Problem, dass ihre eigentlich vernünftige Position schwer zu begründen ist. Genauer gesagt ist es schwer, diese Position einfach und mit einzelnen Fakten oder Forschungsergebnissen zu begründen.

Das liegt auch daran, dass Teile dieser Position von vornherein – meist implizit – für ungültig gehalten und nicht akzeptiert werden. Dass Nichtstun eine zulässige Option ist zum Beispiel; dass ein vager Verdacht, auch wenn er wissenschaftlich gewonnen und formuliert wurde, keinen Handlungszwang auslöst; oder dass das behandelte Problem in einen Kontext eingebettet ist, der Vergleichs- und Bewertungsmaßstäbe liefert.

Auf solche Maßstäbe kann aber kaum verzichten, wer eine rationale Risikoanalyse versucht und sein Handeln daran ausrichten möchte. Die Aktivisten landen im Verlauf der Diskussion bei gewagten Thesen, die oft die Forderung nach der Risikoschwelle null implizieren; die Skeptiker liefern erfolglos Gegenbeispiel um Gegenbeispiel für einen gelasseneren Umgang mit Risiken an anderer Stelle oder Hinweis um Hinweis auf fehlendes Wissen zu wichtigen Aspekten.

Weiter erschwert wird die Diskussion durch die ebenfalls selten explizit gemachte Moralkeule. Aktivisten wollen immer Gutes tun, jemanden oder etwas retten oder schützen, Radfahrer, Nichtraucher, Kinder oder die Menschheit. Skeptiker haben  keine grundsätzlichen Einwände, aber sie halten die Notwendigkeit oder die vorgeschlagenen Methoden im debattierten Fall für nicht ausreichend begründet. Meist reicht die Begründung tatsächlich nicht aus, weil man sich eine beliebige Komponente aus einem umfangreichen Risikogefüge herausgepickt hat und sie nun isoliert betrachtet. Das ist legitim, will man nur Maßnahmen spezifisch zur Behandlung einer Risikokomponente diskutieren. Man kann es sich aber schenken, wenn man vergessen hat, die Auswahl gerade dieser Komponente im Kontext zu begründen und dabei zu berücksichtigen, wie verlässlich die bekannten Risikoschätzungen der jeweiligen Komponente eigentlich sind.

Risikodebatten zwischen Aktivisten und Skeptikern sind inhärent asymmetrisch.Wenn man das nicht berücksichtigt, können sie nicht funktionieren. Ideal wäre es, sich rechtzeitig auf einen Bewertungsmaßstab, Vergleichsgrößen und Anforderungen an die Verlässlichkeit von Belegen zu einigen. Andernfalls redet man aneinander vorbei.

(Dieser Blogeintrag entstand ausgehend von Kommentaren bei Seelsuche und Kritisch gedacht.)

2 Kommentare zu „Helmgegner gibt es gar nicht. Wie sich Risikodebatten selbst verzerren

  1. Diese Kritik ist einfach viel zu unkonkret, um irgendwen treffen zu können. Wenn du näher erläutern würdest, welche Argumentationsstruktur der „Aktivisten“ du anprangerst, welche Argumente der „Skeptiker“ du für plausibel hältst…
    So scheint die Selbstbezeichnung „Skeptiker“ doch eher ungerechtfertigt.

    1. Das soll gar niemanden treffen und ich nehme gerne Vorschläge für bessere Bezeichnungen entgegen. Mich interessiert, wie man Risiken vernünftig diskutiert, bewertet und behandelt. Dazu gehört die Frage, unter welchem Umständen und mit welchen Prioritäten Gegenmaßnahmen angezeigt sind. Um diese Frage zu beantworten, wird man mindestens das Risiko selbst, den Kontext — insbesondere den Umgang mit anderen Risiken –, die Wirksamkeit der betrachteten Gegenmaßnahmen sowie mögliche Nebenwirkungen derselben betrachten müssen, außerdem Alternativen zu den vorgeschlagenen Maßnahmen. Man wird außerdem ein „Risiko zweiter Ordnung“ (spontane Begriffsbildung ohne klare Definition) betrachten müssen, nämlich die Verlässlichkeit und Genauigkeit vorliegender Informationen zu diesen Fragen.

      Dabei geht es mir insbesondere um Situationen, in denen Schutzmaßnahmen verordnet werden sollen, sei es als Empfehlung oder als Zwang. Wie sich jemand persönlich entscheidet, soll seine Sache bleiben. Ich habe auch nichts dagegen, selbst- und fremdverursachte Risiken nach unterschiedlichen Maßstäben zu messen, d.h. dafür zum Beispiel verschiedene Akzeptanzschwellen festzulegen oder die Gegenmaßnahmen vor allem dem Verursacher aufzuerlegen, falls der denn klar ist.

      Schwierigkeiten habe ich erstens mit Argumenten, die sich nur mit einem Aspekt der erforderlichen Betrachtung befassen und diesen nicht ins Gesamtbild einordnen. Zweitens mit Argumenten, die an das Sicherheitsgefühl appellieren, weil das häufig trügt. Drittens mit der — oft impliziten — Prämisse, man müsse bekannte Maßnahmen gegen bekannte Risiken auf jeden Fall einsetzen; sie schließt die Möglichkeit, ein Risiko hinzunehmen, von vornherein aus. Viertens mit augenscheinlich unsinnig gesetzen Prioritäten. Und fünftens schließlich damit, dass man Alternativen ignoriert und allein und ausschließlich über eine einzelne Schutzmaßnahme spricht.

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