Zu den Grundüberzeugungen deutscher Datenschützer gehört die Annahme, jede Beobachtung – insbesondere, aber nicht nur mittels Kameras – lenke auf magische Weise das Verhalten der Beobachteten und mache sie wie von selbst zu artigen Konformisten. Zuletzt argumentierte so das Oberverwaltungsgericht Münster, das der Polizei verbot, öffentliche Demonstrationen zum Zweck der Öffentlichkeitsarbeit zu fotografieren. Denkt man das Argument zu Ende, so bleibt nur noch ein kleiner Schritt bis zur Unterbindung jeglicher Berichterstattung über Demonstrationen, wie sie von autoritären Regimes praktiziert wird. Andernfalls müsste man sich den Vorwurf der Inkonsequenz gefallen lassen, denn wenn der fotografierende Polizist die Demonstranten einschüchtert, warum dann nicht auch der fotografierende Journalist neben ihm, dessen Fotos sich die Polizei im Netz anschauen kann?
Das jüngste Urteil aus Münster ist kein Einzelfall. Selbst der bloßen Anscheinsüberwachung mit Kameraattrappen, gegen entschlossene Täter so wirksam wie eine Vogelscheuche, sagt man die Erzeugung von „Überwachungsdruck“ nach. Empirisch überprüft oder auch nur ernsthaft in Frage gestellt hat man die These von der verhaltenslenkenden Wirkung der Überwachung nie. Gleich einem Mem wurde sie zur Wahrheit durch ständige Wiederholung, indem sie einer dem anderen nachplapperte. Dabei ist sie nicht einmal plausibel: Einer bloßen Beobachtung fehlt schon die zum Lenken nötige Richtung, denn wer nur passiv beobachtet wird, weiß gar nicht, wie er sich verhalten soll und wie nicht. Eine solche Richtung und damit eine lenkende Wirkung ergibt sich erst aus der Systematik von Interventionen. Nicht die bloße Beobachtung lenkt das Verhalten von Menschen, sondern die wahrscheinlichen Konsequenzen. Deutlich machte dies etwa das Ende der DDR vor dreißig Jahren. Damals füllten sich die Straßen schlagartig mit Demonstranten, als sich zeigte, dass das Regime am Ende war, seine Sicherheitskräfte nicht mehr wirksam gegen die eigene Bevölkerung einsetzen konnte und keine Hilfe aus Moskau zu erwarten hätte. Eine Nummer kleiner erleben wir dieselbe Tatsache tagtäglich im Straßenverkehr, wo vor aller Augen ungeniert Regeln gebrochen werden, solange niemand die Verstöße ahndet.
Zweifel am Mem von der verhaltenslenkenden, freiheitsgefährenden Wirkung der Videobeobachtung nährt eine aktuelle Statistik. Comparitech hat für 121 Städte aus aller Welt die Anzahl der Überwachungskameras pro 1.000 Einwohner erfasst und Statista aus den Top 12 eine Infografik erstellt:

Auf den ersten Blick scheint dieses Diagramm alle Vorurteile zu bestätigen, liegen doch acht der aufgeführten zwölf Städte im als Überwachungs- und Unterdrückungsstaat verschrienen China. Vor dessen Hauptstadt Peking, vor das wegen drakonischer Strafen bereits für kleine Vergehen berüchtigte Singapur und in der vollständigen Tabelle auch vor Städte wie Sankt Petersburg, Istanbul und Baghdad schiebt sich die britische Hauptstadt London auf Platz sechs.
Diese Platzierung überrascht zunächst nicht, gelten doch London und Großbritannien insgesamt als Hochburgen des Einsatzes von Closed-Circuit Television (CCTV). Jedoch stellen die Daten die herrschende Theorie in Frage, denn ihr zufolge wären die Menschen in Peking, Singapur, Sankt Petersburg, Istanbul und Baghdad freier als in London. Gemäß der herrschenden Theorie des Datenschutzes wären die Londoner auf der Straße vor allem damit beschäftigt, sich zum Wohlgefallen Ihrer Majestät zu betragen. Wer die Stadt einmal besucht hat, weiß, dass dies nicht der Fall ist. Tatsächlich zeigen die Daten von Comparitech nicht einmal eine Wirkung in der Hauptsache – es gibt keinen erkennbaren Zusammenhang zwischen der Kameradichte einer Stadt und der dort herrschenden Kriminalität, die meist den Überwachungsanlass bildet.
Dass Videoüberwachung nicht per se Verbrechen verhindere, erkennen Datenschutzaktivisten auf der Stelle an und führen es sogar selbst als Argument dagegen ins Feld. Sie sollten stutzig werden, wenn sie direkt daneben allerlei Nebenwirkungen behaupten, die noch weniger belegt sind als die bestrittene Hauptwirkung. Wenn die Verwendung von Kameras noch nicht einmal das Sicherheitsgefühl beeinflusst, wird sie kaum Demonstranten beeindrucken. Tatsächlich sind Kameras nur ein Werkzeug, das von einigen ideologisch aufgeladen wird. Hoffen wir, dass diese Einsicht eines Tages auch die Gerichte erreicht.