Gute Radwege rentieren sich nicht

TL;DR: Es kommt darauf an, welche Zielgröße man optimiert, Radwegbenutzer oder vermiedene Fahrbahnradler.

Deutsche Twitterspießer nörgeln unter dem Hashtag #runtervomradweg über geparkte Autos und andere Hindernisse auf Radwegen und Radstreifen. Manchmal feiern sie auch das gleichermaßen verbotene und wegen der Sichtbehinderung für vorbeifahrende Radfahrer gefährliche Parken links neben einem markierten Radstreifen als vorbildlich. Das finnische Gegenstück dazu heißt #kuinkesäkeli und seine Anhänger klagen vor allem über Schnee, der auf Radwegen liegen bleibt.

Subjektiv ist der Ärger über vermeidbare Hindernisse leicht nachzuvollziehen, wenngleich zu einem über die Verkehrsbehinderung schimpfenden Tweet immer zwei gehören, nämlich auch derjenige, der erst einmal anhält und ein Foto macht. Hindernisse gehen jedem auf die Nerven, das Ausweichen kann gerade auf Radwegen schwierig bis unmöglich sein und wer bei der Radwegbenutzung einen Sicherheitsgewinn fühlt, sieht sich seiner Dividende beraubt.

Brutalparker und Schneehaufen sind jedoch nicht bloß Ärgernisse des Alltags, sondern auch politisch: Sie stehen uns nicht nur konkret beim Radfahren im Weg, sondern auch im übertragenen Sinne auf dem Weg in ein Fahrradparadies, in dem wir alle gemeinsam die Hyggeligkeit Kopenhagener Radwege genießen, bis der Fahrradstau vorbei ist. Um so mehr stellt sich die Frage, warum niemand etwas tut. Den einen wie den anderen Hindernissen könnte man durch konsequentes behördliches Handeln und den regelmäßigen Einsatz von Räumfahrzeugen beikommen, was jedoch systematisch unterbleibt (Update: siehe auch den Nachtrag am Ende).

Viele Radfahrer in Kopenhagen
Fahrradstau in Kopenhagen (Foto von heb@Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)

Aufschlussreicher als das Wehklagen über den Verfall der Sitten und fortwährendes Betteln um „mehr, bessere, sichere Radwege“ (neudeutsch: „Protected Bike Lanes“) ist eine ökonomische Analyse. Hinter systematischem Handeln und Unterlassen, gerade von Organisationen und Institutionen, stecken Anreizstrukturen, die dieses Handeln oder Unterlassen fördern. Wer sie nicht versteht, riskiert Überraschungen.

Radaktivisten gehen häufig von einem Einladungsmodell aus. Der Nutzen von Radwegen – am besten eines zusammenhängenden Radwegenetzes – bestehe darin, das Radfahren objektiv und subjektiv sicherer zu machen und damit Menschen zum Radfahren zu bewegen, die sonst das Auto oder den öffentlichen Nahverkehr benutzten würden. Dieser Nutzen steigt zu Beginn am schnellsten, wenn die ersten Radfahrer auftauchen, die nach dem Einladungsmodell sonst gar nicht auf dem Rad säßen. Als frei skizzierter Funktionsgraph sieht das so aus:

Funkitonsgraph der Nutzenfunktiion
Einladungsmodell. Der Nutzen von Radwegen bemisst sich nach ihrer Nutzerzahl, das Nutzenwachstum nach der prozentualen Steigerung.

Der Nutzen n wächst mit der Zahl der Radwegbenutzer r. Der Anstieg erfolgt jedoch nicht linear, sondern er verlangsamt sich um so mehr, je weiter die Zahl der Radfahrer wächst. Begonnen bei 0 verspricht eine geringe Erhöhung Δr1 der Radfahrerzahl zunächst einen im Verhältnis dazu hohen Nutzengewinn Δn1. Demgegenüber fällt der zusätzliche Gewinn Δn2 aus einer weiteren, viel größeren Erhöhung der Nutzerzahl um Δr2 vergleichsweise bescheiden aus. Solch eine Kurve erhält man, wenn man das Nutzenwachstum nach der prozentualen Steigerung bemisst, denn bei kleinen Ausgangswerten ist die Vervielfachung leicht.

Aus der Perspektive dieses Modells müsste man Hindernisse auf Radwegen radikal beseitigen, auch wenn sie, wie Schnee im finnischen Winter, nur wenige Radfahrer betreffen. Weniger radikal ginge man nach dieser Logik gegen überfüllte Radwege vor, denn sie wären kein Problem, sondern Zeichen des Erfolgs. Wie das Foto aus Kopenhagen oben andeutet, ist dies tatsächlich der Fall – der Stau auf dem Radweg wird als nachahmenswertes Vorbild herumgereicht und er ist natürlich etwas ganz anderes als ein Lieferwagen, dem mal drei Radfahrer ausweichen müssen.

Eine bessere Erklärung für die unterlassene Räumung liefert das Verlagerungsmodell. Anders als das Einladungsmodell misst es den Nutzen von Radwegen daran, wie effektiv der übrige Fahrzeugverkehr von Radfahrern befreit wird. Am nützlichsten sind Radwege demnach, wenn kein Radfahrer mehr im Kfz-Verkehr zu finden ist. Für diese Sicht können beispielsweise Unfallzahlen sprechen, die mit sinkendem Anteil der Radfahrer am Fahrzeugverkehr abnehmen, wenn auch nicht unbedingt proportional. Als Funktionsgraph skizziert sieht dieses Modell ungefähr so aus:

Funktionsgraph des Verlagerungsmodells
Verlagerungsmodell: Der Nutzen bemisst sich danach, wie wenige Radfahrer auf der Fahrbahn unterwegs sind, unabhängig davon, was sie stattdessen tun.

Auch hier tritt der höchste relative Nutzengewinn am unteren Rand ein – wer den letzten Radfahrer loswird, bekommt eine Autobahn. Jedoch spielt nun die Ausgangssituation eine Rolle: Je weniger Radfahrer ursprünglich unterwegs sind, desto weniger lassen sich überhaupt von der Fahrbahn weg verlagern, egal wohin, und desto geringer fällt deshalb der maximal erzielbare Nutzengewinn aus. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die verlagerten Radfahrer auf einem Radweg wieder auftauchen, auf dem Gehweg, in der U-Bahn oder hinterm Lenkrad eines Autos. Wer gleich eine Autobahn baut, muss übers Radfahren gar nicht erst nachdenken.

Das Verlagerungsmodell kann erklären, wieso Radwege ungeräumt bleiben: Schnee und Brutalparker mögen die Radfahrer stören, doch das ist dem Modell egal, denn das Modell dreht sich um Störungen durch Radfahrer. Die aber bleiben aus: weil die Straße ohnehin nicht ausgelastet ist und den Radverkehr aufnehmen kann, weil es insgesamt nicht genügend Radfahrer gibt, um ernsthaft zu stören (statt nur mit ihrer Anwesenheit die Aufführung von Verletzheitsszenen zu provozieren) oder weil ängstliche Radfahrer auch ohne Radweg fernbleiben und sich das Nutzenmaximum so ganz von alleine und kostenlos einstellt. Und wo sich die Radfahrer ausnahmsweise einmal nicht selbst wegräumen, muss man nicht gleich angemessene Infrastruktur bauen. Etwas Farbe oder ein paar Verbotsschilder kosten viel weniger und erreichen dasselbe.

Nichts sei umsonst, heißt es, doch wenn das Optimierungsziel ist, möglichst wenig Radfahrer auf der Fahrbahn zu haben, dann kommt man sehr günstig weg. Jede Infrastrukturlösung ist viel teurer als das Nichtstun und leistet gemessen an abgewehrten Radfahrern doch nur dasselbe wie Untätigkeit und Verbote. Deswegen könnt Ihr mehr gute und sichere Radwege fordern solange ihr wollt – Ihr werdet sie nicht bekommen, denn sie rentieren sich nicht. Stattdessen muss man das Ziel der fahrradfreien Fahrbahn über den Haufen werfen und einen fahrrad-, fußgänger- und anwohnerfreundlichen Kfz-Verkehr zur Regel machen. Von dieser Basis aus mag man dann überlegen, welche Verkehrswege auch ganz ohne Autos auskommen.

PS: Die L-IZ hat Zahlen zur behördlichen Duldung des Brutalparkens in Leipzig zusammengetragen: Übers Jahr bemerkt das Ordnungsamt dort ca. 2000 Falschparker auf Radverkehrsanlagen, das sind im Mittel fünfeinhalb pro Tag oder im Jahr einer pro dreihundert Einwohner. In der Regel bleibt es dann beim Knöllchen; abgeschleppt wurden von Rad- und Fußverkehrsanlagen insgesamt nur 110 Fahrzeuge in drei Jahren oder drei pro Monat. Die Stadt hat an die 600.000 Einwohner.

5 Kommentare zu „Gute Radwege rentieren sich nicht

  1. Ich schätze ja deine Beiträge, aber hier hast du dich verrannt. Vor zwanzig Jahrem hätte dein Modell vielleicht noch etwas erklärt. Derzeit aber trifft das IMO nicht mehr zu.

    Städte wie London, New York oder Paris investieren – mehr oder weniger von jetzt auf gleich – viel in ihre Radinfrastruktur, und dein Modell kann nicht erklären wieso eigentlich. In Köln werden ganze Fahrspuren dem Autoverkehr weggenommen und dem Radverkehr zugeschlagen. Wie passt das in deine Theorie?

    Ich glaube, der Grund dafür ist, dass die Autos – zumindest in den Ballungszentren – mittlerweile selber zum Problem geworden sind, und das vor allem weil es so viele sind. Der Dialektiker spricht hier vom Umschlag der Quantität in Qualität, wir ITler sagen aber schlicht: Es skaliert nicht mehr :).

    Und das führt wiederum zu einem Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik. Was nun verlagert werden muss, sind die Kraftfahrzeuge selber. Und egal in welche Stadt du guckst: Das ist was passiert. Die Rezepte sind unterschiedlich: City-Maut, Abriß von Stadtautobahnen, Schlließen von ganzen Straßenzügen, mehr ÖPNV – und eben Ausbau der Radinfrastruktur. Einige Städte sind forscher, einige zögerlicher – aber das Problem stellt sich überall.

    1. Vielleicht habe ich es nicht deutlich genug formuliert: Mit meinem Modell konkretisiere ich die Behauptung, dass unterschiedliche Ziele zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Das sagt erst einmal nichts darüber, wer warum welche Ziele verfolgt. Auf die Ziele schließe ich rückwärts aus der (schwachen) Empirie der angeführten Twitter-Hashtags: Wenn die beobachteten Effekte eintreten, dann ist unter den idealisierenden Annahmen des Modells das eine Ziel plausibler als das andere. Das heißt nicht, dass nicht anderswo andere Ziele verfolgt werden können.

      Empirisch könnte man als nächstes nachschauen, ob Tweets zu einschlägigen Themen aus manchen Städten häufiger kommen als aus anderen, und dann nach Unterschieden in der Verkehrspolitik suchen. Das ist mir allerdings zu viel Arbeit.

      Auf der Modellseite könnte ich bei Gelegenheit eine Mischkalkulation versuchen: Was kommt heraus, wenn man zu 20/50/80% das eine und zu 80/50/20% das andere Ziel verfolgt? Vielleicht lösen sich die gefühlten Widersprüche dann bereits in Luft auf.

      1. PS: In meiner Gegend ist das der aktuelle Stand: https://www.echo-online.de/lokales/darmstadt/mehr-sicherheit-auf-dem-cityring_19969567. Einerseits ist es ein gutes Zeichen, dass diese Diskussion geführt wird und dass es mit dem Radentscheid Aktivisten gibt, die sie vorantreiben. Andererseits ist es ein schlechtes Zeichen, dass wir diese Diskussion immer noch führen müssen, obwohl im vorliegenden Fall das Problem und Lösungsvorschläge schon vor über zehn Jahren auf dem Tisch liegen. Ich bin gespannt, ob sich jetzt was tut.

        Aber auch das ist aktueller Stand in meiner Gegend: https://www.fr.de/rhein-main/darmstadt/kritiker-zeigen-al-wazir-11488500.html – einen Kilometer neues Straßenbahngleis zum Uni-Campus hält mancher für so etwas wie Hochverrat.

    1. Die sind schon drin, denn Kinder und unsichere Radfahrer sind die ersten, die auf dem Radweg landen, und sei er auch noch so schlecht. Unter anderem deswegen funktioniert dieses Spiel. Die Verhandlungsposition des Radverkehrs ist nicht: „Wir bleiben auf der Fahrbahn, bis ein in jeder Hinsicht (Sicherheit, Komfort, Schnelligkeit, Erreichbarkeit aller Ziele bei jedem Wetter, …) vollwertiger Ersatz zur Verfügung steht“, sondern sie liegt zwischen: „OMG, wenn es keinen Radweg gibt, fahren wir woanders oder gar nicht“, und: „Gottseidank hat jemand ein Ghetto für uns am Fahrbahnrand markiert, da machen wir uns doch gerne weg.“ Zum Dank gibt’s jedes Jahr eine Helmkampagne.

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