Tausendmal studiert, tausendmal doch nichts kapiert

[Dieser Eintrag sollte eigentlich ein weiterer Kommentar zur Helmdiskussion hinterm Mond werden. Wie mir erst hinterher auffiel, hat mich die gestrenge Hausherrin dort wegen ungebührlicher Rhetorik nun offenbar endgültig verbrannt und damit im Vorbeigehen gleich noch ihre selbstgestellte Frage beantwortet, ob Wissenschaft ein Glaubenssystem sei: ja natürlich, in der dort betriebenen Form schon, davon zeugt unter anderem der unbedingte Wille, die vermeintliche Gotteslästerung mit szenetypischen Mitteln zu bekämpfen. Q.e.d. Mit ein wenig Abstand geht ja vielleicht auch den anderen Beteiligten auf, dass diese Diskussion in vielem selbstbezüglich ist.]

Was ich bei Ihnen vermisse, Frau Carone, ist die Bereitschaft, Vermutungen, Erkenntnisse, Beobachtungen und anderes zu Schlussketten zu ordnen und diese dann insgesamt zu bewerten. Ihnen genügt es, dass Studien existieren und Sie verlassen sich darauf, dass die dann schon etwas bedeuten werden, und dass dieses Etwas auch Ihren Vermutungen entspricht. Ich versuche seit geraumer Zeit, mit Ihnen darüber zu diskutieren, ob das Tragen eines Styroporhutes beim Radfahren Ihre Chancen auf Weitergabe Ihrer Gene nennenswert erhöht. Sie sind es, die jede vernünftige Diskussion über die relevante Frage verweigert, sich statt dessen auf zweifelhaftes Stückwerk stützt und keinen Zweifel zulässt.

Also noch einmal ganz klar: ich behaupte, dass das Tragen eines typischen Radlerhelmchens beim Radfahren keinen nennenswerten Einfluss auf Ihr Risiko eines vorzeitigen, unnatürlichen Ablebens hat. Ich beschränke mich mal auf das Todesrisiko, um Sie nicht zu überfordern; wir können aber gerne auch das gesamte Spektrum der Verletzungen und sonstigen Unfallfolgen durchdiskutieren. Meine Hypothese ist plausibel, dass heißt sie lässt sich nicht einfach mit Schuldwissen vom Tisch wischen. Bereits die Einordnung des Radfahrens ins Gesamtrisiko — ich habe dazu genügend verifizierbare Zahlen geliefert — spricht gegen einen nennenswerten Effekt: auf jeden toten Radfahrer kommen gut 60 aus anderen Gründen Gestorbene, wenn man allein Verletzungen, Vergiftungen etc. berücksichtigt. Selbst wenn man allein den Straßenverkehr betrachtet, kommen auf jeden toten Radfahrer noch zehn andere Tote. Die ganzen Spitzfindigkeiten über Helmwirkung und Unfallverläufe können wir uns also eigentlich sparen: bereits mit dieser naheliegenden Abschätzung haben wir uns eine obere Schranke für mögliche Helmwirkungen verschafft. Selbst ein hypothetischer Zauberhelm, der seinen Träger unverwundbar machte (Styroporhüte sind davon weit entfertnt), könnte, beim Radfahren getragen, nur weniger als 2% Ihres gesamten Risikos überhaupt abdecken. Eine Studie, die darauf nicht eingeht, hat sich jedenfalls nicht mit Risikoreduktion beschäftigt, sondern mit irgend etwas anderem; wenn dabei wundersame Zahlen herauskommen, dann sind Sie in der Pflicht, die Bedeutung dieser Zahlen für unsere Frage zu erläutern.

Wie wichtig solche eine Auseinandersetzung mit der Sachfrage ist, hätte Ihnen bereits anlässlich meiner Experimentierstunde vom vergangenen Wochenende auffallen können. Was ich Ihnen dort zu vermitteln versuchte, war die Tatsache, dass wir an wissenschaftliche wie an Alltagsbeobachtungen mit denselben kritischen Fragen herangehen müssen. Die Wissenschaft mag das erleichtern, indem sie sich bemüht, Annahmen und Randbedingungen zu dokumentieren. Aber denken müssen wir schon selbst und eine Beobachtung ist nicht alleine deshalb nichts wert, weil sie nicht von einem amtlich anerkannten Wissenschaftler gemacht wurde. [Das Prinzip, Beobachtungen von Laien ernst zu nehmen und ihnen nachzugehen, liegt übrigens CENAP zugrunde. Da hat jemand den Unterschied zwischen Wissenschaft und Studienwerferei verstanden; dort im Blog anscheinend noch nicht. Die gestrenge Hausherrin hinterm Mond hätte einfach eine UFO-Statistik hervorgezaubert und das Thema für erledigt erklärt.]

Was Ihren Studien völlig fehlt, sind außerdem brauchbare Hypothesen, die auf Theorien über Wirkzusammenhänge beruhen. Das macht sie bereits in sich zu äußerst schwachen Argumenten, ganz gleich, wie gut sie an die eigentliche Frage angeknüpft sind. Den Versuch, allein mit Statistik die Welt zu ergründen, halte ich für äußerst verwegen. Bleiben wir doch einfach bei der Gravitation und wagen ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie werden hier in unsere Welt geworfen und beginnen damit, die Bewegung und Eigenschaften von Objekten in Ihrer Umgebung zu erfassen. Sie tun das mit aller gebotenen Sorgfalt und werten Ihre Daten hernach statistisch aus. Welche Zusammenhänge müssen Ihnen zwingend auffallen? Ich hätte ein paar Vorschläge:

  1. Objekte, deren Masse kleiner als 40 Tonnen ist, bewegen sich vorwiegend ungefähr in Nord-Süd/Süd-Nord-Richtung. Objekte mit größerer Masse bewegen sich vorwiegend ungefähr in Ost-West/West-Ost-Richtung.
  2. Objekte, die sich ungefähr in Nord-Süd/Süd-Nord-Richtung bewegen, tun dies am Boden. Objekte, die sich in ungefähr in Ost-West/West-Ost-Richtung bewegen, tun dies in geringer Höhe über Grund.
  3. Objekte, die sich gen Osten bewegen, gewinnen langsam an Höhe. Objekte, die sich in Richtung Westen bewegen, verlieren langsam an Höhe und berühren alsbald den Boden.
  4. Breite Objekte bewegen sich in der Luft in Ost-West/West-Ost-Richtung, schmale am Boden in Nord-Süd/Süd-Nord-Richtung.

Das ließe sich beliebig fortsetzen, und zwar äußerst wissenschaftlich und mit ernster Miene. Aber was nützen Ihnen die so gewonnenen Aussagen? Nichts, solange Sie über keine Theorie verfügen, die Ihnen die Konzepte Flughafen, Flugzeug, Autobahn, Fahrzeug und noch einige andere wenigstens postuliert. Ohne diesen Unterbau haben Sie nur mit großem Aufwand und in sich zweifellos sauber und unangreifbar etwas untersucht, das Sie nicht sinnvoll in die reale Welt übertragen können. Es steht Ihnen frei, aus den hier skizzierten Beobachtungen zu folgern, man solle Helme tragen, wenn sich in der Nähe Objekte ungefähr in Ost-West/West-Ost-Richtung bewegen. Wundern Sie sich aber nicht, wenn man Ihnen ein paar Kilometer weiter an dieser Stelle einen Vogel zeigt, weil doch jedes Kind weiß, dass Maschinen stets von Nord nach Süd fliegen, während sich Fahrzeuge von Ost nach West bewegen.

Merke: Jede Studie ist höchstens so gut wie die Frage, die sie zu beantworten versucht. Ob Helmpropagandaseiten wie helmets.org eine gute Quelle für gute Fragen sind, lasse ich mal offen. Falls Sie das Thema Helm emotional zu sehr mitnimmt, können Sie auch über die Frage meditieren, warum es eigentlich eine theoretische Physik gibt und man nicht einfach Horden von Exerimentalphysikern Statistiken anfertigen lässt.

Ihr Gerede vom TÜV und Ihren hinfabulierten „Kontrollinstanzen“ und „Bürgerpflichten“ verstehe ich nicht, deshalb will ich hier nicht ausführlich darauf eingehen. So leicht lasse ich mich nicht durch Ihr ganz persönliches Weltbild schubsen. Sie meinen ja nur, wie Sie selbst zugeben, und Sie meinen auch hier völlig an mir vorbei. Keineswegs unterstelle ich dem TÜV Betrug oder unsaubere Arbeit, wie Sie hier zu suggerieren versuchen, wohl weil Sie so einen Strohmann dringend nötig haben. Sondern ich behaupte erstens, dass es bei technischen Zertifizierungen und Prüfsiegeln systematische Einschränlungen der Menge praktisch möglicher AUssagen gibt. Niemand wird Ihnen zum Beispiel bescheinigen, dass ein bestimmter Gegenstand Ihnen das Leben rettet, und sei es auch nur unter bestimmten Randbedingungen. Daraus folgt zweitens, dass man an Prüfsiegel aller Art denselben kritischen Maßstab anlegen muss wie an wissenschaftliche Studien und an Alltagsbeobachtungen: man muss sich wenigstens mal überlegen, worin die Aussage eigentlich besteht. Dankenswerterweise haben Sie oben bereits auf eine TÜV-Broschüre verwiesen. (Dass der Aufdruck „TÜV SÜD Auto Service“ nicht zwingend Neutralität gegenüber dem Thema Radfahren impliziert, ist Ihnen sicher bereits in den Sinn gekommen, oder?) Das dort abgebildete GS-Zeichen ist tatsächlich fast schon Irreführung, denn dieses Siegel beruht auf dem Produktsicherheitsgesetz und besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass Ihr schöner, geprüfter Helm keine scharfen Kanten hat und dass alle stromführenden Teile ordentlich isoliert sind. So etwas lässt sich gut prüfen (formale Kriterien gehen am besten), ist aber für die angestrebte Helmwirkung irrelevant, soweit diese Wirkung über das Ausbleiben zusätzlicher Schäden hinausgehen soll. Hinweise auf helmspezifische Standards liefert die Broschüre nicht. Ich helfe gerne aus. Mindestens eine Norm erlaubt Helme, die aus mehreren Einzelteilen bestehen; offen ist noch, ob nicht auch ein Helm aus Holz die Prüfprozedur bestehen würde. Dafür könnte dann der TÜV überhaupt nichts, das Ergebnis der Prüfung wäre dennoch Mumpitz. Praxisbeispiel aus einer anderen Ecke: der Hamburger Wahlstift, sicherheitszertifiziert aber trozdem gehackt.

Die versprochene lange Erklärung zum Thema Prüfsiegel liefere ich irgendwann nach, im Moment fehlt mir dafür einfach die Zeit. Bis dahin können Sie ja den Artikel „Die Wissenschaft hat festgestellt“ von Jens Bergmann in der aktuellen brand eins lesen. Da tauchen sogar Ihre 80% wieder auf, nur ohne Helm und als Bullshit.

2 Kommentare zu „Tausendmal studiert, tausendmal doch nichts kapiert

  1. Wer Frau Doktor nicht glaubt, glaubt vielleicht einem echten Prof? Tja, lieber nicht:

    Hier die Schwierigkeiten des Helmpredigers Prof. Ullrich beim Umgang mit Urkunden und Statistiken:

    hilflos angesichts „halber“ Doktorin:
    http://www.welt.de/hamburg/article1144506/Sie_war_eine_vorbehaltlos_gute_Medizinerin.html

    hilflos angesichts wirrer Zahlen oder zahlenwirrender DAK/PR-Agentur „mannbeissthund“:
    http://www.presse.dak.de/ps.nsf/sbl/C50F792CEFDE0224C1257409003EE319?OpenDocument

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