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Opt-out

Vor drei Monaten feierten Politiker und Datenschützer die Ende Mai 2018 wirksam gewordene EU-DSGVO, während Vereine und Kleinunternehmen über die damit verbundene Bürokratie stöhnten und nach Auswegen suchten. Bis auf einzelne Geschichten von Fotografierverboten und geschwärzten Kindergesichtern – in Deutschland heißt es nach wie vor: „Vorschrift ist Vorschrift!“ – war seither wenig zum Thema zu hören.

Jene, denen es mit der DSGVO angeblich hätte an den Kragen gehen sollen, allen voran die Online-Werbewirtschaft, können weiter ruhig schlafen. Sie haben einen Weg gefunden, ihre Interessen im Einklang mit der DSGVO-Bürokratie weiter zu verfolgen: Dark Patterns, unanständige Entwurfmuster. Die Gestaltung von Benutzerschnittstellen kann das Verhalten ihrer Benutzer beeinflussen, indem sie Handlungen und Vorgänge einfacher oder schwieriger macht, schneller oder zeitraubender, versteckter oder offensichtlicher, fehleranfälliger oder robuster. Das ist nicht per se falsch, denn Benutzerschnittstellen sollen sich den Benutzern erklären. Die Grenze zum Dark Pattern ist schwer zu definieren, aber sie ist klar überschritten, wo eigennützige Manipulationsabsichten offensichtlich werden.

Dieses Video zeigt ein Beispiel:

Websites arbeiten mit Werbenetzen, Analytics-Diensten und anderen Dienstleistern zusammen, die das Benutzerverhalten beobachten und auswerten. Über diese Verarbeitung muss jeder Nutzer in der Regel selbst entscheiden können. Das Video zeigt, wie eine offensichtlich interessengeleitete Gestaltung der Benutzerschnittstelle in der Praxis funktioniert – man müsste eine Viertelstunde im Web herumklicken, ohne am Ende zu wissen, was es gebracht hat. Ebenso weit verbreitet sind Zwangsfunktionen, welche die Nutzung von Websites verhindern oder erschweren, bis man in irgend etwas „eingewilligt“ hat.

Vermutlich ist diese Gestaltung nicht legal, doch bislang ist dazu vom organisierten Datenschutz wenig zu hören – er ist unter einer Welle von Anfragen zur DSGVO zusammengebrochen. Überraschend kommt diese Entwicklung allerdings nicht. Zum einen ist die formale Einhaltung von Vorschriften bei gleichzeitiger Optimierung auf die eigenen ökonomischen Interessen die typische Reaktion von Unternehmen auf Compliance-Vorschriften. Wer beispielsweise Geld anlegen möchte, muss seiner Bank heute hundert Seiten Papier unterschreiben – angeblich zu seinem Schutz, tatsächlich jedoch, damit die Bank unter allen denkbaren Umständen über genügend Dokumente verfügt, um sich aus der Affäre zu ziehen und ihre Hände in Unschuld zu waschen („Rechtssicherheit“).

Zum anderen passt das Interaktionsparadigma des Datenschutzes – eine Art Vertragsschluss bei Beginn der Verarbeitung – nicht dazu, wie das Internet funktioniert. Wir emittieren heute permanent Daten in den Cyberspace und die Idee, diese Emission über Verfügungen pro Interaktionskontext zu regeln, führt nicht zu tragfähigen Lösungen. Was man wirklich einmal regeln müsste, wären die Interaktion und die Machtverhältnisse im Web.

Digitaler Umweltschutz?

In der Süddeutschen fordert Adrian Lobe einen digitalen Umweltschutz und argumentiert dabei mit Datenemissionen. Das ist mir im Ansatz sympathisch, weil ich die Vorstellung der permanenten Datenemission für ein geeigneteres Modell der heutigen Datenverarbeitung halte. Andererseits geht mir jedoch seine Ausweitung des Gedankens auf eine Analogie zu Emissionen im Sinne des Umweltschutzes zu weit.

Unabhängig davon, was wir insgesamt von der personenbezogenen Datenverarbeitung halten und welche Schutzziele wir im Einzelnen verfolgen, brauchen wir als Grundlage ein passendes Modell davon, wie Daten entstehen, fließen und verarbeitet werden. In dieser Hinsicht beschreibt das Emissionsmodell die heutige Realität besser als die Begriffe des traditionellen Datenschutzes, die auf das Verarbeitungsparadigma isolierter Datenbanken gemünzt sind.

Der klassische Datenschutz in der Tradition des BDSG (alt) ist begrifflich und konzeptionell eng an die elektronische Datenverarbeitung in isolierten Datenbanken angelehnt. Daten werden „erhoben“ (jemand füllt ein Formular aus) und sodann „verarbeitet“, das heißt gespeichert, verändert, übermittelt gesperrt oder gelöscht, sowie vielleicht sogar „genutzt“ (diesen Begriff verfeinert das alte BDSG nicht weiter).

Diese Vorstellungen passen nicht zu einer Welt, in der jeder ein Smartphone in der Tasche hat, das permanent Daten in die Cloud sendet. Sie passen nicht einmal dazu, dass einer die Adresse und Telefonnummer eines anderen in der Cloud speichert. Aus dem Konflikt zwischen der veralteten Vorstellung und der heutigen Realität resultieren regelmäßig Blüten wie der Hinweis des Thüringer Datenschutzbeauftragten, die Nutzung von WhatsApp sei rechtswidrig, die den Datenschutz als realitätsfern dastehen lassen.

Mit dem Emissionsmodell bekommen wir eine neue Diskussionsgrundlage, die näher an der tatsächlichen Funktionsweise der Datentechnik liegt. Wenn wir die Schutzziele des Datenschutzes auf dieser Grundlage diskutieren, finden wir eher praktikable und wirksame Maßnahmen als auf der Basis veralteter Vorstellungen. Das ist die positive Seite des Emissionsgedankens.

Die negative Seite zeigt sich, wenn man den Gedanken zu weit treibt und daraus eine Analogie zu Emissionen im Sinne des Umweltschutzes macht. Das ist zwar verführerisch – wenn ich mich richtig erinnere, haben wir diese Frage beim Schreiben von „Emission statt Transaktion“ auch diskutiert – aber ein rückwärtsgewandter Irrweg.

Ein entscheidender Unterschied zwischen Umwelt- und Datenemissionen liegt darin, dass Umweltemissionen eine zwangsläufige Wirkung haben: Im verschmutzten Fluss sterben die Fische, Kohlendioxid ändert das Klima und Plutonium im Tee macht krank. Nach der Freisetzung lässt sich die Wirkung nur noch durch eine – meist aufwändige – Sanierung steuern und unter Umständen nicht einmal das.

Daten haben diese zwangsläufige Wirkung nicht. Wie wir miteinander und wie Organisationen mit uns umgehen, können wir unabhängig von Daten regeln. Wenn wir zum Beispiel Diskriminierung verbieten und dieses Verbot wirksam durchsetzen, dann kommt es auf die verwendeten Mittel nicht mehr an – was eine Organisation weiß, ist egal, denn sie darf damit nichts anfangen.

Dem traditionellen Datenschutz ist diese Perspektive jedoch fremd, denn er verfolgt das Vorsorgeprinzip für den Umgang mit epistemischen Risiken: Wenn wir die Gefahren von etwas noch nicht gut genug verstehen, um sie quantifizieren zu können, lassen wir besser sehr große Vorsicht walten. Dieser Gedanke ist im Umweltschutz weit verbreitet und bezieht seine Berechtigung dort aus dem Maximalschadenszenario der Zerstörung unserer Lebensgrundlage. Selbst mit dieser Drohung im Gepäck bleibt das Vorsorgeprinzip freilich umstritten, denn epistemische Ungewissheit über Gefahren impliziert auch Ungewissheit über die Kosten und Auswirkungen von Vorsichtsmaßnahmen.

Im traditionellen Datenschutz – der, ob Zufall oder nicht, etwa zeitgleich mit dem Erstarken der Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung entstand – finden wir diesen Vorsorgegedanken an mehreren Stellen: in der Warnung des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil vor einer Gesellschafts- und Rechtsordnung, „in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“, im grundsätzlichen Verbot der Verarbeitung personenbezogener Daten, das nur ausnahmsweise durch eine Rechtsvorschrift oder die Erlaubnis der Betroffenen aufgehoben werde, sowie in der Forderung nach Datenvermeidung und Datensparsamkeit.

All dem liegt die Vorstellung zugrunde, die Speicherung und Verarbeitung personenbezogener Daten sei mit unschätzbaren Gefahren verbunden und daher nur äußerst vorsichtig zu betreiben. Allerdings wissen wir heute, dass man damals so manche Gefahr grob überschätzte. So warnte das Verfassungsgericht weiter: „Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen“, und: „Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus.“ Das war zu kurz gedacht – heute zelebrieren viele von uns ihre abweichenden Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit von Twitter, Facebook, Instagram und YouTube und träumen dabei von einer Karriere als Influencer.

Heute leben wir in jener Welt, vor der das Verfassungsgericht einst warnte, genießen ihren großen Nutzen und spüren nur geringe Schmerzen. Von den befürchteten Gefahren für die freie Entfaltung er Persönlichkeit ist wenig zu sehen. Zudem können wir inzwischen ganz gut einschätzen, welche Gefahren bestehen und was man dagegen zu welchem Preis tun kann. Der Vorsorgegedanke ist damit überholt und deshalb passt die Analogie zum Umweltschutz nicht so gut. Andererseits ist der Umweltschutz nicht nur Vorsorge, sondern beinhaltet auch die risikoorientierte Gefahrenabwehr und in dieser Hinsicht mag man sich an ihm als Vorbild orientieren.