Schlagwort-Archive: DSGVO

Datenschutz mit blinden Flecken

Ein simpler Bewegungsmelder wird zur Überwachung, sobald er in China Bewegung meldet und europäische Medien darüber berichten. Dächten wir über solche Nachrichten aus Fernost nach, statt uns nur in unseren Vorurteilen zu bestätigen, könnten wir etwas über Datenschutz, Überwachung und Erziehung lernen. Doch dann müssten wir uns eingestehen, dass wir mit dem Datenschutz das Pferd von hinten aufzäumen.

Über China kursieren im Westen viele Legenden. Das Land ist weit genug weg, dass es nur wenige gut aus eigener Anschauung kennen, seine Kultur ist uns fremd genug, um uns geheimnisvoll zu erscheinen, und China ist zu bedeutend, als dass man es wie seinen Nachbarn Nordkorea als belanglose Randerscheinung belächeln könnte.

China gilt uns als der Überwachungsstaat schlechthin und Überwachung als Inbegriff des Bösen. Wollen Datenschutzaktivisten einen Teufel an die Wand malen, so greifen sie gerne zu Geschichten vom Social Credit Scoring und der alles überwachenden Kommunistischen Partei. Kulturelle Unterschiede werden dabei ebenso nonchalant verdrängt wie der Umstand, dass unsere Werte und Eigenheiten nicht weniger willkürlich sind als die der anderen.

Wie bei vielen Themen stammt die Berichterstattung aus einem Topf voll wieder und wieder rezitierter Meme, die zwar manchmal ihr Kostüm wechseln, sich im Kern jedoch kaum wandeln. Sie kennen das aus der Blökchain. Darunter mischt sich ein Hang zur Besserwisserei, denn wer wollte ernsthaft dem Datenschutzweltmeister widersprechen, der wir so gerne sein möchten? Zu kurz kommt, was einen Erkenntnisgewinn verspräche: dass man sich im Vergleich verschiedener Kulturen seine eigenen Vorurteile und blinden Flecken bewusst machte.

Ein Beispiel. Die FAZ verbreitet dieses Video mit dem Titel „Überwachung in China: Dusche für ‚Bei-Rot-Geher‘“:

Das Video dauert nur eine Minute und zeigt Mechanismen, mit denen man in China Fußgänger zur Einhaltung der Verkehrsregeln bewegen möchte. Ein Mittel dazu sind Poller an einem ampelgeregelten Übergang, die bei Rot gehende Fußgänger mit einem Bewegungsmelder erkennen und mit Wasser bespritzen. Später erwähnt der Beitrag noch Verkehrskameras an Kreuzungen und eine darauf gestützte Ansprache von Fußgängern über installierte Lautsprecher. Ob es sich jeweils um die üblichen Mittel handelt oder nur um Versuche, erfahren wir übrigens nicht.

Was das Video nicht so deutlich sagt, jeder westliche Datenschutzaktivist jedoch gerne glauben möchte: Hier zeige sich der Chinesische Überwachungsstaat und wir mögen froh sein, über Datenschutzaktivisten und eine EU-Datenschutzgrundverordnung (DS-GVO) zu verfügen. Doch in Wirklichkeit ist die Sache komplizierter. Zum einen gelten die Verkehrsüberwachung und die Ahndung von Verstößen auch hierzulande im Prinzip als legitim, wenn auch deutsche Datenschützer gerne mal eine Totalüberwachung wittern, wo es in erster Linie um die effektive Durchsetzung von Fahrverboten geht. Zum anderen hätte unser Datenschutz mit den im Video vorgestellten Erziehungspollern weit weniger Probleme, als Datenschutzaktivisten lieb sein kann.

Der europäische Datenschutz stellt die Verarbeitung personenbezogener Daten in den Mittelpunkt seiner Bemühungen. Kurz gefasst geht er von der Vermutung aus, je mehr jemand über einzelne identifizierbare Personen wisse, desto problematischer sei dies. Darauf gestützt regelt die Datenschutz-Grundverordnung den Umgang mit solchen Daten und die begleitende Bürokratie. In ihrer eigenen Logik folgerichtig fordert die DS-GVO unter dem Schlagwort „Datenschutz durch Technikgestaltung“ („Privacy by Design“) die Anonymisierung oder Pseudonymisierung personenbezogener Daten, wo immer dies möglich sei. Damit gehe der Personenbezug verloren (Anonymisierung) oder er werde verborgen (Pseudonymisierung), was die Betroffenen der Datenverarbeitung vor negativen Folgen schütze, so die Idee.

Die Beispiele aus dem Video zeigen, wo der Haken liegt. Wir sehen dort situationsbezogene Erziehungsmechanismen: Wer gegen die Verkehrsregeln verstößt und bei Rot über die Straße geht, bekommt sofort negatives Feedback, ähnlich einem abzurichtenden Hund, dessen Ungehorsam sein Herrchen auf der Stelle straft. Man mag diesen Ansatz primitiv finden, doch unterscheidet er sich nur dadurch vom roten Blitz, der auf zu schnelles Fahren oder das Ignorieren einer roten Ampel folgt, dass ihm später kein Schreiben der zuständigen Bußgeldstelle folgt.

Die im Video vorgestellten Erziehungsmechanismen funktionieren anonym. Sie erkennen ein Verhalten und wirken direkt auf die betreffende Person, ohne erst Akten und Datensätze zu wälzen. Überwachung ist das schon, nur eben nicht personen-, sondern situationsbezogen. Nach europäischen Datenschutzmaßstäben wären solche Maßnahmen akzeptabler, sogar korrekter als das hiesige Verfahren mit den namentlich adressierten Verwarnungs- oder Bußgeldbescheiden. Als Datenschutz-Erregungsanlass taugen sie deshalb wenig, sobald man sich einmal von oberflächlichen Analogien und dem üblichen Raunen gelöst hat.

Der Datenschutz schütze nicht Daten, heißt es oft, sondern Menschen, doch wo aus Daten Handlungen werden, oder eben auch nicht, hat er einen großen blinden Fleck. Dem Datenschutz liegt die Unterstellung zugrunde, Daten über identifizierte Individuen führe zu Handlungen und Vorenthalten dieser Daten könne diese Handlungen verhindern. Dies mag in manchen Fällen richtig sein. Gebe ich beispielsweise meine Telefonnummer nur an ausgewählte Personen weiter, so verhindere ich damit jene – mutmaßlich unerwünschten – Anrufe, die sich für den Anrufer so wenig lohnen, dass er dafür weder meine Nummer recherchieren noch zufällig gewählte Nummern nacheinander anrufen würde.

Die smarten Poller aus China jedoch zeigen, dass diese Schlusskette nur manchmal funktioniert. Viel häufiger begegnet uns im Alltag die anonyme Manipulation, der es auf unsere Identität nicht ankommt. Von Glücksspielen über Payback-Coupons bis zur Werbung sind wir ständig interaktiven Beeinflussungsversuchen ausgesetzt, die sich auf alles mögliche stützen, nur nicht darauf, dass jemand möglichst viele explizite Angaben mit unserem Namen assoziiert. Sie funktionieren dennoch.

Ein Spielautomat zum Beispiel manipuliert seine Zielgruppe mit durchschaubarer Psychologie, viel Geld zu verspielen: mit der Illusion zum Beispiel, sorgfältig kalkulierte Gewinnchancen durch das Drücken  von Knöpfen beeinflussen zu können, und mit kleinen Gewinnen zwischendurch, die der Spieler doch nur an den Automaten zurückgibt. Das funktioniert nicht bei allen, aber Spielautomaten ziehen diejenigen an, bei denen es funktioniert. Die Hersteller müssen diese Zielgruppe gut verstehen. Personenbezogene Daten über Spieler brauchen sie hingegen nie.  Sie haben dies mit nahezu allen Formen der Beeinflussung vom Nudging bis zum Betrug gemeinsam.

Das heißt nicht, dass der Datenschutz komplett sinnlos wäre, doch als Mittel zum Risikomanagement und als Freiheitsgarant setzt er häufig am falschen Ende an. Er konzentriert sich auf die Daten und ignoriert tendenziell die Handlungen, während in Wirklichkeit die Handlungen oft ohne jene Daten auskommen, die der Datenschutz im Auge hat. Die Ironie dabei: Der Datenschutz beruft sich auf Grundrechte, allen voran das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aber seine Aufmerksamkeit endet, wo Menschen zu bloßen Nummern pseudonymisiert oder wie Tiere dressiert werden.

Der Datenschutz soll, so seine Verfechter, Machtgefälle nivellieren und den Einzelnen davor schützen, zum bloßen Objekt der Datenverarbeitung durch staatliche Stellen oder durch Unternehmen zu werden. Doch sein Fokus auf mit Identitätsbezug gespeicherte Datensätze macht ihn blind für das Handeln der Mächtigen. So wird jeder Staat, der Verkehrsregeln aufstellt, deren Verletzung bekämpfen – dazu ist die Staatsmacht da. Der deutsche Staat tut dies in einem Verwaltungsverfahren gegen eine namentlich benannte Person, der chinesische anscheinend auch durch direkte Erziehung ohne Verfahren.

China ist so gesehen kein Überwachungs-, sondern ein Erziehungsstaat. Dies ist nicht einmal per se falsch, denn verschiedene Kulturen können soziale Probleme verschieden bewerten und lösen und nicht alle europäischen Grundrechte sind auch universelle Menschenrechte. Nach der europäischen Datenschutzlogik jedoch macht China im Video alles richtig und taugt nicht als mahnendes Beispiel.

Statt sich mit Machtverhältnissen und mit Mechanismen der Machtausübung zu beschäftigen, verzettelt sich der institutionalisierte Datenschutz lieber in Diskussionen um technische Details wie Cookies und IP-Adressen. Welche Wirkungen man sich davon verspricht, können die Datenschützer selbst nicht erklären.

Die bekannte Auswüchse, auch die ungewollten und aufgebauschten, wie die auf Fotos gesichtslos gemachten Schulkinder, die verbotene Anscheinsüberwachung mit Attrappen oder die beinahe ihrer Namen auf dem Klingelschild beraubten Mieter sind eine Folge davon. Der formale Datenschutz kann mit wenigen Ausnahmen keinen plausiblen Wirkmechanismus vorweisen, während viele relevante Vorgänge jenseits seines Horizonts liegen. Er schmort deshalb im eigenen Saft.

Opt-out

Vor drei Monaten feierten Politiker und Datenschützer die Ende Mai 2018 wirksam gewordene EU-DSGVO, während Vereine und Kleinunternehmen über die damit verbundene Bürokratie stöhnten und nach Auswegen suchten. Bis auf einzelne Geschichten von Fotografierverboten und geschwärzten Kindergesichtern – in Deutschland heißt es nach wie vor: „Vorschrift ist Vorschrift!“ – war seither wenig zum Thema zu hören.

Jene, denen es mit der DSGVO angeblich hätte an den Kragen gehen sollen, allen voran die Online-Werbewirtschaft, können weiter ruhig schlafen. Sie haben einen Weg gefunden, ihre Interessen im Einklang mit der DSGVO-Bürokratie weiter zu verfolgen: Dark Patterns, unanständige Entwurfmuster. Die Gestaltung von Benutzerschnittstellen kann das Verhalten ihrer Benutzer beeinflussen, indem sie Handlungen und Vorgänge einfacher oder schwieriger macht, schneller oder zeitraubender, versteckter oder offensichtlicher, fehleranfälliger oder robuster. Das ist nicht per se falsch, denn Benutzerschnittstellen sollen sich den Benutzern erklären. Die Grenze zum Dark Pattern ist schwer zu definieren, aber sie ist klar überschritten, wo eigennützige Manipulationsabsichten offensichtlich werden.

Dieses Video zeigt ein Beispiel:

Websites arbeiten mit Werbenetzen, Analytics-Diensten und anderen Dienstleistern zusammen, die das Benutzerverhalten beobachten und auswerten. Über diese Verarbeitung muss jeder Nutzer in der Regel selbst entscheiden können. Das Video zeigt, wie eine offensichtlich interessengeleitete Gestaltung der Benutzerschnittstelle in der Praxis funktioniert – man müsste eine Viertelstunde im Web herumklicken, ohne am Ende zu wissen, was es gebracht hat. Ebenso weit verbreitet sind Zwangsfunktionen, welche die Nutzung von Websites verhindern oder erschweren, bis man in irgend etwas „eingewilligt“ hat.

Vermutlich ist diese Gestaltung nicht legal, doch bislang ist dazu vom organisierten Datenschutz wenig zu hören – er ist unter einer Welle von Anfragen zur DSGVO zusammengebrochen. Überraschend kommt diese Entwicklung allerdings nicht. Zum einen ist die formale Einhaltung von Vorschriften bei gleichzeitiger Optimierung auf die eigenen ökonomischen Interessen die typische Reaktion von Unternehmen auf Compliance-Vorschriften. Wer beispielsweise Geld anlegen möchte, muss seiner Bank heute hundert Seiten Papier unterschreiben – angeblich zu seinem Schutz, tatsächlich jedoch, damit die Bank unter allen denkbaren Umständen über genügend Dokumente verfügt, um sich aus der Affäre zu ziehen und ihre Hände in Unschuld zu waschen („Rechtssicherheit“).

Zum anderen passt das Interaktionsparadigma des Datenschutzes – eine Art Vertragsschluss bei Beginn der Verarbeitung – nicht dazu, wie das Internet funktioniert. Wir emittieren heute permanent Daten in den Cyberspace und die Idee, diese Emission über Verfügungen pro Interaktionskontext zu regeln, führt nicht zu tragfähigen Lösungen. Was man wirklich einmal regeln müsste, wären die Interaktion und die Machtverhältnisse im Web.