Sündenböcke

Dass die Debatte um eine Corona-App zur Kontaktverfolgung entgleist ist, wird niemandem entgangen sein. Los ging es, als von einer App noch gar nicht die Rede war, mit dem Vorschlag, „irgendwas mit Händiortung zu machen“ und einer vorsorglichen Erlaubnis, die es dann doch nicht ins IfSG schaffte. Kurz darauf traten DP-3T und PEPP-PT auf den Plan, setzten den Fokus auf das Nebenthema Datenschutz unter Meidung einer sauberen Anforderungsanalyse und zerstritten sich über der Frage, welche Funktionen zentral und welche dezentral ablaufen sollten. Während dieser Streit weite Kreise zog, widmete die Öffentlichkeit den grundlegenden Problemen des Vorhabens und der lückenhaften Entwurfsarbeit wenig Aufmerksamkeit. Ein vorläufiges Ende setzte dieser wenig produktiven Diskussion die Bundesregierung mit ihrer Entscheidung, von SAP und der Telekom eine App auf der Grundlage von Gapples angekündigter Lösungsplattform entwickeln zu lassen, und sich schwierigeren Themen wie dem Immunitätspass zuzuwenden.

In einem Kommentar auf FAZ.NET macht Morten Freidel nun alleine „die Hacker“ für die Debatte und ihr Ergebnis verantwortlich. So sehr ich seinen Eindruck teile, dass organisierte Nerds etwa in Gestalt des CCC Expertentum und Aktivismus vermischen, ihr Auftreten in dieser Debatte keine Glanzleistung darstellt und ihre ewiggleichen Forderungen und Mahnungen manchmal mehr schaden als nützen, muss ich die Nerdaktivisten doch gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, sie trügen die Hauptschuld am kommunikativen Desaster um die Corona-App.

Versagt hat zuerst die Bundesregierung. Sie hätte sich rechtzeitig Gedanken machen und einen Plan vorlegen sollen, ob und wie digitale Lösungen die Seuchenbekämpfung unterstützen sollen. Immerhin sitzt im Kanzleramt eine Staatsministerin für Digitalisierung, die jedoch wenig von sich hören lässt, seit Millionen Deutsche in ihren Heimbüros auf das Internet angewiesen sind. Stattdessen trieb die Öffentlichkeitsarbeit des PEPP-Konsortiums eine Zeitlang neben den Aktivisten auch die Bundesregierung vor sich her. Politisches Geschick zeigte die Regierung erst, als sie PEPP-PT seinen einzigen Claim vom Vertrauen durch technischen Datenschutz aus der Hand riss, gegen die Freischärler wandte und nebenbei noch die Entscheidung für Gapple und gegen eine eigene technische Basis ohne jeden Widerspruch durchsetzte.

Dass vorher aus PEPP-PT heraus ein Richtungsstreit „zentral vs. dezentral“ eskaliert war, ist ebenfalls nicht zuerst Nerdaktivisten anzulasten. Dieser Streit geriet in die Öffentlichkeit, als dreihundert Wissenschaftler in einem offenen Brief Partei ergriffen für eine forschungsnahe Technologieentwicklung („dezentral“) und gegen einen undogmatischen, zielorientierten Entwicklungsprozess*. Zu welchen Anteilen dieser offene Brief durch ehrliche Bedenken, auf die Gruppendynamik eines stabilen Beziehungsnetzes oder auf gekränkten Narzissmus zurückgeht, wissen nur die Akteure. Festzuhalten bleibt: 300 Wissenschaftler haben mit ihrer lautstarken Äußerung die falsche Dichotomie „zentral vs. dezentral“ gestärkt, offensichtliche Schwächen in der Anforderungsanalyse und im Entwurfsprozess hingegen übersehen und sich dann einen schlanken Fuß gemacht.

Einen schlanken Fuß macht sich auch die Bundesregierung, was gesetzliche Regelungen für die Kontaktverfolgung angeht. Kein Vorschlag liegt auf dem Tisch und man hat wohl auch nicht vor, dieses Thema in Zukunft zu regeln. Dabei hätte ein vertrauensbildender Regelungsvorschlag als Gegenpol zur technikfixierten PR von PEPP-PT einen weit konstruktiveren Beitrag zur Debatte geleistet als die letztendliche Richtungsentscheidung um ein technisches Detail.

Auf den engen datenschutztechnischen Fokus der Debatte eingestiegen zu sein und keine Ausweitung auf eine Gesamtsicht gefordert zu haben, mag man vielen Nerds vorwerfen. Historisch gesehen hat die Hacker- und Nerdaktivistenszene gewiss auch einen Anteil daran, dass Datenschutz inzwischen wichtiger scheint als Konzept und Funktion eines Systems. Die Verantwortung für das Scheitern der Corona-App-Debatte jedoch liegt primär bei anderen, bei PEPP-PT, bei der Bundesregierung und bei den eingeschnappten Professoren.

*) Ich spekuliere, da ich PEPP-PT nur aus den Nachrichten kenne. Auf mich wirkte es jedoch so, als habe man dort entwickelt und dabei gelernt; ich sehe gute Gründe, auf „dezentralen“ Extremismus zu verzichten.