Mit der Industrialisierung entstanden Massenmedien. Bevor sie um die Gunst ihrer Leser, Hörer oder Zuschauer konkurrieren konnten, mussten sie sich erst einen der knappen Kanäle sichern. Teils hatte das technische Gründe, wie bei Funk und Fernsehen, teils wirtschaftliche, denn das Herausgeben einer Zeitung wie auch der Betrieb einer Rundfunk- oder Fernsehanstalt erfordern Kapital und deshalb einen Mindestumsatz pro Zeiteinheit.
Das Internet hat uns Jedermannmedien wie Twitter, Facebook oder Telegram gegeben. Dort kann jeder an alle senden, die ihm zuhören wollen. Begrenzt ist nur noch die Aufmerksamkeit des Publikums, um die sich alle balgen. Geld verdient dabei zunächst nur die Plattform, und zwar umso mehr, je mehr Aufmerksamkeit sie insgesamt binden kann. Dies gilt für die Werbung, die sich ein Stück vom Kuchen der Aufmerksamkeit abschneidet, ebenso wie für das Risikokapital, das sich eine Zeitlang mit schnell wachsenden Metriken als Gegenleistung begnügt.
Einige Plattformen, allen voran YouTube, geben einen Teil ihrer Einnahmen an ihre Sender weiter und nähern sich damit teilweise herkömmlichen werbefinanzierten Medien wie dem Privatfernsehen und -radio an, erlauben jedoch parallel dazu das unbezahlte Senden. Andere, wie Twitter und Instagram, ermöglichen ihren Nutzern keine direkte Monetarisierung ihrer Reichweite und erlangten Aufmerksamkeit; teils lässt sich diese mit externen Diensten wie Patreon oder der Nutzung als Werbeplattform für eigene Produkte kompensieren. Manche haben nicht einmal ein nachhaltiges Geschäftsmodell, so wie Telegram, das seine letzten Einnahmen mit dem Verkauf selbst erzeugter Blockchain-Token („ICO“) erzielte, bevor die amerikanische Börsenaufsicht dem ein Ende setzte.
Das Internet schafft damit einen Raum für Medienprodukte, die vom Narzissmus oder der Agenda der Sender sowie der Einfalt ihrer Gefolgschaft leben. Esoterik und Verschwörungstheorien, die in den letzten Wochen in Form von Demonstrationen aus dem Internet herausschwappten, stellen nur eine Ausprägung diese Modells dar. Dass sich Telegram in diesem Zusammenhang zum Kopp-Verlag unter den Messengern entwickelt hat, dürfte nicht zuletzt fehlenden Reichweitebeschränkungen zuzuschreiben sein.
So im jungen Internet jeder mit wenig Aufwand ein Spammer werden konnte (Stimmt die Zeitform oder gibt es immer noch so viel Spam und ich sehe ihn nur nicht mehr?), kann heute auch jeder ein Massenmedium sein. Er muss dafür nur Zeit investieren und veröffentlichen, was seiner Zielgruppe gefällt. Als Belohnung gibt es Likes, Reshares und manchmal eine „Hygienedemo“ besonders eifriger Anhänger. Etwas Besseres als ein folgsamer Mob kann den Sendern kaum passieren.
Vordergründig funktioniert dieser neue Medienmarkt zwar wie der Alte, der ebenfalls Aufmerksamkeit belohnt, doch fällt das Geld als Regulativ für Inhalte weitgehend weg – auch auf Seiten der Empfänger, die sich nicht mehr auf einige wenige mutmaßlich seriöse Quellen festlegen müssen, sondern sich aus einem Überangebot das herauspicken, was ihnen gerade gefällt. Zugleich verschwimmen die Grenzen zwischen Sendern und Empfängern. Alle machen alles und viele träumen davon, es vom Twitter-Ei zum Like- oder Follower-Millionär zu bringen.
Negative Konsequenzen haben die Jedermannmedien auch dort, wo keine böse Absicht im Spiel ist. Aktuelles Beispiel: Das deutsche Corona-Warn-App-Projekt arbeitet relativ offen auf GitHub. Dort kann jeder in die Dokumentation und den Programmcode schauen, Fragen stellen, Probleme melden und diskutieren. Die Entwickler reagieren darauf professionell und nachvollziehbar, sie sind in einem vernünftigen Maß – um fertig zu werden, muss man manchmal Prioritäten setzen und nicht alles entscheiden die Entwickler selbst – offen für Kritik und Verbesserungsvorschläge. Doch die Arbeitswoche beginnt für sie nach dem Feiertag damit, dass sie am Dienstag halb neun jemand per Twitter anpisst, weil ihm an ihrem Datenbankentwurf etwas nicht gefällt. Die genannten Merkmale stellen wahrscheinlich gar kein großes Problem dar, weil die Datenbank im Fall der Corona-Warn-App ohnehin nur der Koordination dezentraler App-Instanzen dient und die zentral anfallenden Informationen kaum etwas über identifizierbare Personen aussagen. Trotzdem gibt’s zur Belohnung allgemeines Schulterklopfen. Den Entwicklern will er’s vielleicht später melden.
Dies ist das Resultat einer Plattform, die den Narzissmus ihrer Nutzer gamifiziert hat, um damit Geld zu verdienen. Hier kann jeder ein kleiner Trump sein und sich seine tägliche Dosis Bestätigung aus der eigenen Populismusblase holen. Im kleinen Maßstab ist das kein Problem, doch insgesamt kommen wir vielleicht nicht darum herum, den senderseitigen Aufwand wieder an die Reichweite zu binden und so die alte Trennung zwischen relativ aufwändiger Massen- und billiger Individualkommunikation geringer Reichweite wiederherzustellen.