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Public Relations

Tracking und Targeting

In ihrem Paper Targeted, Not Tracked: Client-side Solutions for Privacy-Friendly Behavioral Advertising (HotPETS’11) machen Mikhail Bilenko, Matthew Richardson und Janice Y. Tsai auf eine verbreitete Begriffsunsauberkeit in öffentlichen Datenschutzdebatten aufmerksam. Sie diskutieren den Unterschied zwischen dem Targeting als Zweck und dem Tracking als Mittel, den ich vor einiger Zeit hier in der Serie Datenkrake Google behandelt habe.

Tracking ist das, wovor alle Angst haben: jemand sammelt quer durchs Internet individualisierte Daten über das Nutzerverhalten. Daraus entsteht eine große, unheimliche Datenhalde aus detaillierten Informationen über jeden von uns, mit der man alles Mögliche anstellen könnte. Isoliert betrachtet ergibt dieses Tracking jedoch als Geschäftsmodell wenig Sinn:

  1. Sammle detaillierte Verhaltensdaten über alle
  2. ???
  3. Profit!

Viel Sinn ergibt hingegen das Targeting von Werbung, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis der Werbetreibenden zu optimieren. Targeting ist, was die Werbewirtschaft in erster Linie möchte. Tracking stellt ein mögliches Mittel zu diesem Zweck dar und ist übrigens nur so effektiv wie die Modelle, mit denen man aus den vorhandenen Daten Entscheidungen ableitet.

Tracking kann ein Mittel zu allen möglichen Zwecken sein. Targeting ist nicht zwingend auf bedrohliches Tracking angewiesen.

Grundsatzfrage

Das wichtige Stichwort im Urheberaufruf lautet arbeitsteilige Gesellschaft, und es wird uns im Umgang mit der Piratenszene noch öfter beschäftigen. Arbeitsteilung ist eine alte und grandiose Idee, ein Pfeiler unserer Zivilisation. Arbeitsteilung und lässt uns durch Spezialisierung effizienter produzieren und gibt uns die Freiheit, Dinge zu tun, die für unser Überleben nicht erforderlich sind. Ohne Arbeitsteilung müssten wir Zeit auf Gemüsebeete und Hühnerstelle verwenden, die wir lieber im Internet verbringen. Arbeitsteilung liefert uns Pizza an die Wohnungstür – und dem Pizzaboten Internet aufs Smartphone.

Arbeitsteilung erfordert gesellschaftliche Mechanismen und Systeme, die sie ermöglichen und erleichtern. Märkte und Geld gehören zu diesen Mechanismen, differenzierte Bildungsoptionen, oder auch die repräsentative Berufspolitik.

Systemisch ist Arbeitsteilung eine gute Sache; dem Einzelnen kann sie jedoch gefühlte Nachteile bereiten: Abhängigkeiten zum Beispiel (Wo kommt mein Bier her, wenn die Tankstelle zu hat?) oder den Druck, sich für ein primäres Tätigkeitsprofil zu entscheiden und über Jahre zu dieser Entscheidung zu stehen. Arbeitsteilung bringt zudem einen gefühlten Kontrollverlust über Entwicklungen außerhalb der eigenen Spzialisierung(en) mit sich.

In der Piratenszene suchen auch Angehörige von Subkulturen ihr Glück, die der Arbeitsteilung wenig abgewinnen können. Unter der Flagge eines ätherischen Freiheitsideals kämpfen sie gegen Mechanismen der Arbeitsteilung, ohne die Nebenwirkungen zu bedenken. Die einen wollen das Urheben crowdsourcen, andere wünschen sich ein Flatrate-Einkommen ohne Tauschgrundlage, und viele träumen von mehr Bürgerbeteiligung in der Politik. Sie sind auf dem Holzweg. Systeme und Verfahren, die den Grad der Arbeitsteilung reduzieren, bedeuten einen Rückschritt. Die damit scheinbar gewonnene Freiheit hat den Preis, dass sich der Einzelne um viel mehr Angelegenheiten selber kümmern muss.

Die Grünen mussten damals in den 80ern eine Auseinandersetzung zwischen Fundis (Fundamentalisten) und Realos (Realpolitikern) austragen. Die Realos haben sich durchgesetzt, die Grünen sind heute eine normale und wählbare Partei. Die Piraten steht eine ähnliche Entscheidung bevor.

Alle Jahre wieder

Anderthalb Wochen nach Frühlingsanfang: Die Sonnencreme-Kampagne 2012 ist angelaufen und informiert uns wie jedes Jahr darüber, dass wir uns der gefährlichen Strahlung aus dem All keinesfalls ungeschützt aussetzen dürfen. Auch die aktuelle Ausgabe des alljährlichen Zeckenalarms wurde bereits gesichtet. Nach Ostern kommen die Fahrradhelme dran und danach wird man uns daran erinnern, wie wir ohne Explosionen und ohne Verbrennungen grillen.

Mein Verstärkerschaum

Die Filterblase gehört zu den Standards der Netzkritik. Dem Informationsfluss in sozialen Netzen wird der Begriff jedoch nicht gerecht.

Mir gegenüber im Büro sitzt ein ausgebildeter Philosoph und Volkswirt, der ein paar Jahre in der IT-Wirtschaft gearbeitet hat und jetzt an seiner Dissertation über Sicherheitsmodellierung schreibt. Ihn kann ich Sachen fragen, von denen ich vorher noch gar nicht ahnte, dass ich sie je wissen wollte. Auch ohne Fragen zu stellen bekomme ich von ihm ein unterschwelliges Bewusstsein anderer Denkkulturen und Begriffswelten, durch spontane Diskussionen, selbst geführte oder mitgehörte. Dies ist keine Ausnahme, sondern ein repräsentatives Beispiel aus meinem Alltag. Wo soziale Interaktion ins Spiel kommt, wird aus der Filterblase ein Verstärkerschaum für nur sehr grob eingegrenzte Informationen und eine gehörige Portion Rauschen. Da  (auch da) war mein Gedankengang noch nicht fertig, deswegen hier ein eigener Text.

Den Begriff der Filterblase (Filter Bubble) prägte Eli Pariser:

»Your filter bubble is your own personal, unique universe of information that you live in online. What’s in your filter bubble depends on who you are, and it depends on what you do. But you don’t decide what gets in — and more importantly, you don’t see what gets edited out.«

Er bezog sich auf adaptive Algorithmen in Suchmaschinen und anderen Diensten, die Informationen auf unsere Wünsche und Bedürfnisse zuschneiden sollen. Über unerwünschte Nebenwirkungen solcher Technologien nachzudenken, ist gut und richtig. Pariser sagt selbst, dass es ihm nicht um die Abschaffung aller Filter geht, sondern um die Transparenz. Wir müssen dabei aber den Kontext beachten. Niemand von uns nimmt die Welt nur durch eine Suchmaschine wahr, wir haben auch noch ein soziales Umfeld. Soziale Netzen können deshalb aus der Filterblase ein nützliches und kontrolliertes Werkzeug machen.

Ich bin Informatiker und beschäftige mich mit IT-Sicherheit. Das sind bereits zwei weite Felder. Die Informatik umfasst eine Reihe von Teildisziplinen; mit Themen der IT-Sicherheit beschäftigen sich neben Informatikern auch Psychologen, Soziologen, Anthropologen, Ökonomen, Juristen, Politiker, Manager, Journalisten und, wie wir eingangs sahen, auch Philosophen. Daneben interessieren mich andere Themen: Sprache und Sprachen; Radverkehr; Jonglieren in Theorie und Praxis; Design; Fotografie; sowie allerlei Dinge, die mir gar nicht so bewusst sind. Außerdem lese ich heimlich Modeblogs, damit man mir den Informatiker auf der Straße nicht gleich ansieht.

Diese Interessen finden sich, über mehrere Plattformen sowie das richtige Leben verteilt, in meinen sozialen Netzen als Attribute meiner Mitmenschen wieder. Dort gibt es Menschen, deren Output mich interessiert; ihr Tun hängt in irgeneiner Weise mit meinen Interessen zusammen. Hinzu kommen alte Bekannte, die ihre Leben leben, sich weiterentwickeln und neue Themen für sich entdecken, wie auch ich das als alter Bekannter von anderen tue.

Diese Menschen besitzen ihrerseits jeweils einen Satz von Interessen, dessen Übereinstimmung mit meinen Interessen partiell bleibt. Das hat zur Folge, dass immer wieder Inhalte den Weg zu mir finden, die mit meinen unmittelbaren und mir bewussten Interessen wenig zu tun haben. Aufgrund der Besetzung meiner Circles, wie das bei Google+ heißt, bekomme ich in der Summe ein Signal aus Nachrichten zu Themen, die mich explizit interessieren, überlagert von Störungen, die vielleicht produktiv, vielleicht auch mal lästig sind. Indem ich meine Circles pflege, bestimme ich grob die Anteile verschiedener Themen am Signal. Das Störsignal dagegen kann ich nur dem Umfang nach steuern, den Inhalt kontrolliere ich nicht. Je perfekter ich Störungen zu vermeiden versuche, desto mehr Arbeit habe ich damit. Also nehme ich sie hin, solange mir das Nutzsignal gefällt. Das ist das Gegenteil von Eli Parisers Suchmaschinenszenario, wo ich einer nicht steuerbaren Suchmaschine ausgeliefert bin. Ich habe, mit den genannten Einschränkungen, die Kontrolle darüber, welche Schwerpunkte ich in meinem Eingabestrom setze. Ich liefere mich einer Gruppe von Menschen aus, die ich selbst auswähle. Diese Menschen zeigen und erzählen mir, was ihnen wichtig ist.

In sozialen Netzen lebe ich deshalb nicht in einer Filterblase, sondern in einem Verstärkerschaum. Aus dem globalen Palaver von derzeit ungefähr zwei Milliarden Internetbewohnern verstärken mir soziale Netze ein Nutzsignal, mit dem ich etwas anfangen kann, das aber keineswegs rauschfrei ist. Zu jedem Menschen gehört eine Sammlung unterschiedlich großer Awareness-Blasen zu verschiedenen Themen. Nicht feste Wände begrenzen diese Blasen, sondern durchlässige Membranen. Alle Blasen ändern fortwährend ihre Göße und Position.

Das ist kein Hexenwerk, sondern so funktioniert das richtige Leben, wo wir ebenfalls Ideen weitertragen und unsere Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreise nicht filtern, sondern bestimmte Arten von Informationen verstärken. Das Netz bildet solche Beziehungen und Vorgänge nach und erweitert dabei meinen Horizont. Es befreit mich von räumlichen Beschränkungen und es erlaubt mir den effizienten Umgang mit einer größeren Zahl von Menschen und ihren Äußerungen.

Wollte ich aus sozialen Netzen eine echte, dichte Filterblase machen, müsste ich das explizit tun. Ich müsste die Träger unwillkommener Ansichten und die Überbringer unangenehmer Nachrichten öffentlich als Trolle klassifizieren und mich der Zustimmung meines sozialen Umfelds vergewissern, indem ich diese Aussätzigen mit großer Geste aus meinem Blickfeld und dem meiner Umgebung verbanne. Einige Blogger sind sehr eifrig darin, dies in ihren Kommentaren zu tun – aber auch das ist Selbstbestimmung und ihre Probleme sind nicht meine Probleme.

Die Gegenthese dazu ist nicht die Filterfreiheit, denn ganz ohne Filter geht es nicht. Wo 2 Milliarden Menschen durcheinander kommunizieren, höre ich ohne jeden Filter nur noch ambiente Geräusche. Es geht deshalb nicht darum, ob wir filtern, sondern wie. Keine Nachricht hat per se einen Anspruch darauf, meine Filter zu durchdringen. Wichtige Nachrichten aber haben bessere Chancen, von meinem Filter verstärkt zu werden, weil Nachrichten gerade dadurch wichtig werden, dass viele sie wichtig finden. Ich mache mir wenig Sorgen, dass ich Entscheidendes verpassen könnte. Jeder Shitstorm, jedes Mem gibt mir Recht.

Unterschätzte Risiken: Subventionen

If you’re not paying for it, you’re the product. Was uns bezogen auf Facebook eine Selbstverständlichkeit ist, gilt auch woanders. FAZ.NET berichtet über das Zugunglück in Buenos Aires:

»Das Eisenbahnnetz, das für den Transport Tausender Argentinier zwischen der Provinz Buenos Aires und der Hauptstadt Buenos Aires unentbehrlich ist, befindet sich seit Jahren in einem maroden Zustand. Die Linien wurden bisher vom Staat hoch subventioniert. Die Betreibergesellschaften investierten nur wenig in den Erhalt des Fahrzeugparks und noch weniger in die Modernisierung der Wagengarnituren.«

(FAZ.NET: Ungebremst in den Kopfbahnhof)

Wenn eine Eisenbahn vor allem vom Staat finanziert wird und nicht von ihren Fahrgästen, dann hat sie einen starken Anreiz, viele Leute mit wenig Aufwand in ihre Züge zu stopfen. Je mehr sie transportiert, desto leichter tut sich die Politik damit, weiter Geld hineinzustecken, die Wähler freut’s ja, falls sie’s überleben. In Sicherheit zu investieren lohnt sich für so ein Unternehmen nicht, das verursacht nur Kosten, ohne die Einnahmen zu beeinflussen. Hingen die Einnahmen hingegen komplett vom Kundeninteresse ab und böte der Markt diesen Kunden Alternativen, bedeutete ein Unglück für das Unternehmen ein beträchtliches unternehmerisches Risiko, in dessen Vermeidung zu investieren sich lohnte. Die Argentinische Regierung tut deshalb möglicherweise genau das richtige für die Sicherheit, wenn sie die Subventionen zusammenstreicht:

»Sein Nachfolger [Verkehrsstaatssekretär] Schiavi ist im Auftrag der Regierung der Präsidentin Cristina Kirchner damit befasst, die staatlichen Zuschüsse für die Eisenbahnen zu kappen, um die Staatskasse zu entlasten. Das dürfte für die Benutzer der Regionalbahn-Linien eine drastische Erhöhung der extrem günstigen Tarife bedeuten.«

(ebd.)

Märkte sind weder böse noch unheimlich, sie sind ein Instrument.

Das Personalchefargument

Kommentarrecycling (dort im Spamfilter hängengeblieben):

Aus Diskussionen über öffentliche persönliche Informationen ist der googelnde Personalchef kaum wegzudenken. Gestritten wird dann darüber, was er denn nun sehen oder nicht sehen soll, damit dem Verkäufer eigener Arbeitskraft nichts schlimmes passiere. Gerne malt man sich phantasievoll die möglichen Folgen verstaubter Partyfotos aus, das gehört zu den Standards solcher Diskussionen. Doch es gibt ein grundlegendes Problem mit dem googelnden Personalchef: das Personalchefargument ist falsch, weil es von falschen Voraussetzungen ausgeht. Auf die Feinheit, ob der Personalchef nun etwas finden soll oder lieber nicht, kommt es dabei nicht an. Im Gegenteil, die Beliebigkeit in diesem Aspekt deutet auf ein grundlegendes Problem in den Axiomen hin. Wer mit einem falschen Satz von Axiomen anfängt, kann damit bekanntlich alles und das Gegenteil begründen.

Das Personalchefargument unterstellt als – regelmäßig unausgesprochene – Voraussetzung ein Unterwerfungsverhältnis zwischen Unternehmen („Arbeitgebern“) und für sie Arbeitenden („Arbeitnehmern“). Der Arbeitnehmer habe sich dem Arbeitgeber wohlgefällig zu verhalten, folgt daraus. In dieser Einseitigkeit ist das Modell falsch. In Wirklichkeit gibt es einen Arbeitsmarkt. Wie jeder andere Markt führt der Arbeitsmarkt führt der Arbeitsmarkt Parteien zusammen, die jeweils ihre eigenen Interessen verfolgen, und lässt sie Geschäfte zum beiderseitigen Nutzen machen. Dabei muss jeder dem anderen entgegenkommen, um seinen angestrebten Nutzen zu realisieren. Ich muss Zeit opfern, um Geld zu verdienen; eine Firma muss Geld opfern, um meine Zeit und meine Fähigkeiten zu bekommen. In der Ökonomie drückt man alles in Geld aus; im richtigen Leben spielen Faktoren wie das Betriebsklima auch ohne explizite Umrechnung eine Rolle.

In einem idealen Markt gibt es keine Ungleichgewichte, keine Seite kann den Markt über ihre Teilnahme hinaus zugunsten der eigenen Interessen beeinflussen. In der Realität greift man zuweilen regulierend ein, wo sich ein Markt zu weit von diesem Ideal entfernt. Regulierende Eingriffe können auch deshalb nötig sein, weil einige der theoretischen Eigenschaften idealer Märkte gar nicht realisierbar sind, zum Beispiel unendlich viele Teilnehmer auf beiden Seiten.

Das Personalchefargument ignoriert die Gegenseitigkeit des marktwirtschaftlichen Austauschs. Es postuliert Verhaltensregeln für Arbeitende, aber keine für Unternehmen, als gäbe es ein Kartell der Arbeitgeber. In Wirklichkeit muss aber jede Seite der anderen entgegenkommen, sonst finden keine Geschäfte statt, und was in einer Paarung von Marktteilnehmern nicht funktioniert, kann in einer anderen zum guten Geschäft werden.

Es mag also durchaus vorkommen, dass Personalchefs Saufbilder aus dem Internet in ihren Entscheidungen berücksichtigen. So wie es auch vorkommt, dass Firmen ihre Entscheidungen auf Horoskope oder graphologische Gutachten stützen. Das bedeutet dann aber nicht, dass jemand keine Arbeit findet, sondern lediglich, dass in einer bestimmten Konstellation kein Geschäft zustandekommt. Sind die Gründe dafür irrational, so ist das sogar zum Schaden des irrational Handelnden.

Eine Voraussetzung für einen gut funktionierenden Markt ist übrigens Transparenz: jeder Teilnehmer soll alle für rationale Entscheidungen relevanten Preise und Qualitätsmerkmale kennen. Die richtige Schlussfolgerung aus dem Personalchefargument ist deshalb nicht, dass jeder Arbeitende sein Online-Image zu polieren habe, sondern dass neben unseren Saufbildern auch die Dreckecken der Unternehmen ins Netz gestellt gehören. Wenn ich mich bei einem Unternehmen bewerbe, bewirbt sich gleichzeitig das Unternehmen bei mir. Da möchte ich schon etwas über seine Vergangenheit erfahren, und die Sommerfeste und Weihnachtsfeiern sind dabei minder relevant.

Unterschätzte Risiken: Sicherheitsbewusstsein – und Kindergartenbedrohungsmodelle

Die Vorgeschichte:

Jemand hat eine Schadsoftware verbreitet, die den Datenverkehr befallener Systeme umleitet. Das FBI hat die dafür verwendeten Server unter seine Kontrolle gebracht und zunächst weiterlaufen lassen, will sie aber demnächst abschalten. Das BSI stellt zusammen mit der Telekom eine Website bereit, mit der man seinen PC auf Befall prüfen kann und ggf. ein Tool zur Bereinigung angeboten bekommt.

Das Ergebnis:

»Verwirrung um die Schadsoftware DNS-Changer: User fürchten nach dem Aufruf zum Rechner-Selbsttest des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, sie könnten sich den Staatstrojaner einfangen. Die Behörde weist die Vermutung zurück.«

(Focus Online:
Angst vor Hacker-Angriff und dem Staatstrojaner: Internetnutzer trauen dns-ok.de nicht)

Kinder, das ist doch blöd. Wenn ich einen Staatstrojaner unter die Leute bringen will, dann mache ich das nicht so, dass mein Werk nach drei Stunden aufgeflogen und durchanalysiert ist. Und überhaupt, woher habt Ihr Euer Angreifermodell? Was muss man geraucht haben, um bei jeder Handlung der Behörden eines demokratischen Rechtsstaates zuerst eine gegen sich selbst gerichtete Verschwörung zu vermuten? Sicher, Behörden machen manchmal Mist, zuweilen auch richtig großen und mit Vorsatz. Aber so eine plumpe Verteilaktion, wie Ihr sie unterstellt? Ihr seid ja nicht ganz dicht.

Bevormundungsstaat angreifen

Jörg Friedrich ruft zum Widerstand gegen die Sicherheitsbürokratie auf und hat damit vollkommen Recht:

»Wer nicht eines Tages mit leuchtender Warnweste und Helm auf dem Kopf durch die Stadt spazieren will, dem bleibt im Moment nur, Sand ins Getriebe zu streuen. Keiner automatischen Verpflichtung, auch wenn man sie selbst für sich als angenehm empfindet, zuzustimmen. Niemand muss mir vorschreiben, etwas zu tun oder zu lassen, dessen Risiko nur mich selbst betrifft.«

(Der Freitag:
Bevormundungsstaat: Die risikolose Gesellschaft)

Plastikschüsseldebatte

Verkehrsminister Ramsauer betätigt sich als Helmtroll, und das sehr gekonnt. Weil nur wenige Menschen von der Notwendigkeit einer Styroporkopfbedeckung beim Radfahren überzeugt sind, sollen gefälligst viel mehr Leute eine solche tragen, sonst werde man es allen vorschreiben. Auf solche Begründungen muss man erst mal kommen, das ist weit kreativer als die unzählige Male ausgetauschten Sachargumente. Mutti auf Eskalationsstufe drei hätte es nicht absurder hinbekommen.

P.S.: Wunderbar, die Botschaft ist in den Medien angekommen. Ich begrüße diese Entwicklung.

Kleine Datenschutztheaterlinksammlung

In den Kreisen der Spackeria macht die Wortschöpfung Datenschutztheater die Runde. Bereits vor knapp einem Jahr prägteverwendete Ed Felten die englische Entsprechung Privacy Theater, die ungefähr dasselbe bezeichnet, nur ohne den deutschen Bürokratie- und Beauftragtenoverhead. Google findet noch ein paar frühere Verwendungen. Isotopp beleuchtet schon seit längerer Zeit immer wieder Beispiele, zuletzt das Opt-Out für WLAN-Accesspoints und die amtlich datenschutzkonforme Verwendungsweise von Google Analytics. Zeit für einen Paradigmenwechsel im organisierten Datenschutz.

Viel Lärm um fast nichts

Was fühlen wir uns alle verfolgt, wenn wir nach Amerika reisen, raunt es doch überall, man werde dort unsere Latops an der Grenze untersuchen und unsere Daten kopieren. Plausibel war diese Bedrohung nie, denn es gab kaum belegte Fälle. Seth Schoen bestätigt diesen Eindruck nun mit konkreten Zahlen:

»Zwischen Oktober 2008 und Juni 2010 soll es nur 6.500 Durchsuchungen dieser Art gegeben haben. Das waren etwa zehn pro Tag, die sich auf 327 Grenzübergänge verteilten. Die Hälfte der Durchsuchungen betraf dabei US-Bürger, es ist also kein alleiniges Problem für Auswärtige.«

Warum der Golem-Artikel erst mal langatmig hirnverbrannte Tipps gibt, wie man gegen die Nichtbedrohung entgehen könne, bevor er endlich zur Nachricht kommt, weiß nur die Redaktion. Schrieb’s ein Quereinsteiger mit mehr Ahnung von IT als von Journalismus? Konnte jemand nicht aus seiner Haut und musste seine Vorurteile deswegen über die Fakten siegen lassen? Handelt es sich um einen schweren Fall von Service? Oder war die Wahrheit einfach nicht sexy genug? Die rhetorische Frage über dem Golem-Artikel – Wie man die US-Grenze mit seinen Daten überschreitet – hat für alle praktischen Belange eine einfache Antwort: nicht anders als mit einem Taschenbuch, einem Faltrad oder einer Badehose im Gepäck.

(Dank an Tim K für den Link zum Artikel)

Expertentipps

FAZ.NET watscht die Dauernuckelfraktion und ihre Ratgeber ab: man möge doch einfach auf seinen Durst hören statt auf die Trinkmengenempfehlungen von Trinkmengenexperten. Solche Emfehlungen hätten keine wissenschaftliche Grundlage, übertriebener Trinkeifer könne sogar schaden.

So weit, so gut. Was die Autorin freilich unterschlägt, ist die Rolle der Medien in diesem Spiel. Es mag ja sein, dass die Mineralwasserabfüller zu schwarzer PR greifen, um mehr Wasser in Flaschen abzusetzen. Auch die beste PR braucht aber jemanden, der die Botschaft weiterträgt. Das tun Medien nur zu gerne und nennen es Service, praktische Lebenshilfe mit einfachen Empfehlungen auf berufenem Munde.

Servicethemen muss man kaum einem Medium aufdrängen, sie suchen selbständig danach, nicht nur in Serviceformaten, sondern praktisch immer, wenn sie einen Experten für irgend etwas vors Mikrofon bekommen. Der Experte darf gerne eine Weile erklären und einschätzen und abwägen, aber am Ende soll er dem Publikum bitteschön konkrete Tipps geben: Wie oft soll ich meine Unterhose wechseln? Womit kann ich mich vor Regen schützen? Wann kommt der Weihnachtsmann und biete ich ihm Kaffee an? Aber bitte ganz einfach, wir wollen das Publikum ja nicht überfordern.

So kommt es, dass die Medien voll sind von Expertentipps. Zeckenexperten geben Zeckenalarm und empfehlen Zeckenschutzzimpfungen, Fahrradhelmexperten empfehlen Styropor auf dem Kopf, IT-Sicherheitsexperten empfehlen Virenscanner und unrealistisch (und oft unnötig) komplizierte Passworte.

Das ist nicht nur eine Einladung an jeden PR-Arbeiter, seinen Mineralwasserexperten dort einzureihen, sondern auch ein Problem für echte Experten. Gewiss, ein paar einfache Tipps sind leicht formuliert. Nützlich und seriös werden sie aber erst, wenn sie auch eine nennenswerte Wirkung versprechen. Das tun einfache Tipps für komplizierte Probleme aber kaum. Ich kann niemandem in drei einfachen Tipps erklären, wie er Unfälle vermeidet, seine IT-Sicherheit erhält oder länger lebt.

Anders herum ausgedrückt, alle einfachen und verständlichen Tipps, die ich geben kann, werden in der Zielgruppe ohne messbare Wirkung bleiben. Mit einer Ausnahme. Wer dem Rat der Experten folgend etwas getan und vorgesorgt hat, fühlt sich besser, ganz gleich, was es wirklich bringt. Das ist der Service.

Post-privacy in practice

While our government-appointed privacy officials fight Google, Facebook, and everyone who dares processing IP addresses, this is going on in the world around us:

»One incident that recently came up is the fact that my car reports latitude, longitude, position, and speed whenever it downloads an RSS feed (yes my car actually downloads RSS – it’s a Nissan Leaf).«

(SIGCRAP: The continuing erosion of privacy)

[Update: See The Risks Digests for links to details.] I suppose my cellphone may do the job for me while I’m riding my bicycle.