Archiv der Kategorie: Digitalveganismus

Scheinalternative Anwendungszoo

In Baden-Württemberg laufen einige Vereine und Verbände weiter Sturm gegen den Einsatz von Microsoft-Produkten in Schulen als handle es sich dabei um von Bill Gates persönlich verimpfte atomgetriebene Tunnelbahnhöfe der fünften Generation. Neben ätherischen Ideen wie WeltSchulfrieden, Datenschutz und digitaler Souveränität sowie abstrusen Prägungstheorien führen die Vereine als Argument auch angebliche Alternativen an (PDF):

„Mit Moodle (Lernplattform), BigBlueButton (Videokonferenzsystem), LibreOffice (Bürosoftware), Thunderbird (Mailprogramm) und Nextcloud (Dateiablage und Kooperation) stehen allen Schulen Anwendungen zur Verfügung, die den Funktionsumfang von MS 365 abdecken oder übertreffen.“

Eine Sprecherin des Kultusministeriums zitiert dagegen positive Erfahrungen und findet es „verwunderlich, dass die Verbände in ihrer gemeinsamen Stellungnahme die Bedürfnisse der Schulen und Praktiker vor Ort offenbar nicht zur Kenntnis nehmen und die Realitäten des Alltags verkennen.“ Ich teile ihre Verwunderung nicht, denn die Ansichten der Aktivisten lassen sich zwanglos mit einem engen Erfahrungshorizont erklären. Anscheinend hat keiner von ihnen in den letzten zehn Jahren eine moderne Office-Installation aus der Nähe gesehen.

Wer Microsoft Office hört, denkt zuerst an Word, Excel und PowerPoint. Kein Wunder, denn aus diesen Produkten schnürte Microsoft vor gut drei Jahrzehnten sein erstes Office-Paket. Bis heute sind sie in jeder Version enthalten, doch die Hauptrolle spielen sie nicht mehr. Microsoft Office heißt heute: Outlook und Skype for Business und OneNote und Teams sowie im Hintergrund in einer herkömmlichen On-Premise-Installation Exchange, SharePoint und Active Directory. Und das ist zusammen kein Zoo aus einzelnen Anwendungsgehegen, sondern eine integrierte Lösung, ein digitales Gondwanaland.

Eine Besprechung mit Microsoft Office geht ungefähr so: Zuerst sagst du Outlook, dass du gerne Leute einladen würdest, und suchst dir die Teilnehmer aus dem Adressbuch aus. Dein Adressbuch weiß, wo das Active Directory steht, deshalb findest du da jeden aus deiner Organisation. Outlook schaut dann selbständig in die einzelnen Kalender und schlägt dir Zeiten vor, die allen passen. Du schreibst deinen Einladungstext und klickst auf den Skype-Button, der einen Block mit den Zugangsdaten fürs Meeting in deine Nachricht einfügt. Das ist alles. Kein Wechsel zwischen Programmen, keine mentale Checkliste erforderlicher Fleißarbeiten – du schreibst einfach eine Einladung, der Rest geht mehr oder weniger von selbst. Wenn nicht gerade Pandemie ist und alle zu Hause bleiben, kannst du im Vorbeigehen auch einen freien Besprechungsraum suchen und reservieren.

Genauso unkompliziert legst du aus deinem Kalender einen Notizzettel in OneNote an, entweder für dich alleine oder auf dem Sharepoint-Server für alle. Auf diesem Notizzettel erscheinen von selbst die Metadaten zur Besprechung – Betreff, Datum, Uhrzeit, Teilnehmerliste und so etwas — und dann kannst du oder könnt ihr loslegen und zum Beispiel die Agenda entwerfen. Dir fällt dabei ein, dass du zur Vorbereitung unbedingt noch etwas erledigen musst? Kein Problem, aus OneNote heraus kannst du deine Outlook-Aufgabenliste befüllen und aus der Aufgabenliste kommst du selbstverständlich auch zurück zum Ursprung und ob du deine Aufgabe in Outlook oder in OneNote als erledigt abhakst, bleibt dir überlassen.

Kurz bevor die Besprechung losgeht, meldet sich Outlook mit einer Erinnerung. Daraufhin beginnst du nicht etwa hektisch im Kalender und deiner E-Mail nach den Einwahldaten zu suchen, sondern du klickst einfach den Beitreten-Button im Erinnerungsfensterchen an und setzt dein Headset auf, während Skype for Business die Verbindung aufbaut. Während der Besprechung kommt dann vielleicht mal PowerPoint zum Einsatz oder Excel oder was auch immer man gerade zum Arbeiten braucht. Das Protokoll schreibst du in OneNote, das dir die im Skype-Meeting erschienenen Teilnehmer in der Liste selbständig ankreuzt, damit du dich auf Wichtigeres konzentrieren kannst. Du berichtest im Meeting von einem Telefonat letzte Woche und kannst dich nicht mehr erinnern, wer dich da angeskypet hat? Guckst du Outlook, das merkt sich deine Chats und Anrufe aus Skype for Business.

Du bist oft unterwegs und willst lieber mit dem Smartphone? Dann nimmst du halt Outlook und OneNote und Skype for Business für Smartphones. So wird nicht nur die Cloud als Backend auf einen Schlag plausibel, sondern du bekommst auch noch gratis Office Lens dazu, das dir  Whiteboards und Flipcharts und Visitenkarten und Dokumente nach OneNote fotografiert und sie dabei entzerrt und zuschneidet. Und ja, wenn es sich um Drucksachen handelt, macht OneNote unaufgefordert OCR und du kannst später nach dem Inhalt suchen.

Das, und nicht Word/Excel/PowerPoint, ist ein zeitgemäßes Officepaket: eine integrierte Lösung für die Organisation, Kommunikation und Zusammenarbeit im Arbeitsalltag. Wer ganz oder teilweise im Manager Schedule arbeitet, viele verschiedene Vorgänge im Blick behalten muss oder aufgrund seiner Rolle mit vielen verschiedenen Menschen zu tun hat, erleichtert sich seine Arbeit damit ungemein. Gelungene Integration kommt unauffällig daher, hat jedoch einen großen Nutzen, denn sie beseitigt Reibungsverluste und Hürden. Fürs Wesentliche bleibt mehr Zeit, die Kommunikation und Zusammenarbeit läuft rund.  Dabei habe ich Microsoft Teams mangels eigener Erfahrung damit noch nicht einmal berücksichtigt.

In vielen Unternehmen funktioniert das so. Richtig klar wird einem das vielleicht erst, wenn man es mal selbst erlebt hat – und dann südwestdeutschen Querdünkel von Dateiablagen und LibreOffice schwärmen hört. Solche Alternativen spielen nicht in derselben Liga und auch nicht in der nächstniedrigeren. Google Workspace spielt in derselben Liga, aber das würde ihnen ja genauso wenig gefallen.

Selbstverständlich könnte man sich vornehmen, Ähnliches auf der Grundlage von Open-Source-Software selbst zu entwickeln. Vorher möge man jedoch kurz überschlagen, wie viele Jahre Vorsprung Microsoft und Google haben, wie viele Milliarden an Investitionen in ihren Produkten stecken und wie viele voraussichtlich noch hinzukämen, bevor man sie eingeholt hätte. Fünf Milliarden aus einem Digitalpakt würden dort kein ganzes und auch kein halbes Jahr reichen.

Gewiss, in die Hände von Grundschülern gehört ein digitaler Büroarbeitsplatz nicht. In die ihrer Lehrerinnen und Lehrer dagegen schon und dann bitte ordentlich, nicht als Modell 601S. Lehrerinnen und Lehrer haben nämlich allerlei zu planen, zu kommunizieren und zu organisieren. Gibt man ihnen vernünftige Werkzeuge dafür, können sie sich genau wie Büroarbeiter besser aufs Wesentliche konzentrieren. Ein paar jugendfreie Funktionen wie einfach zu nutzende Konferenzschaltungen für improvisierten Fernunterricht fallen dabei fast von alleine mit ab und vielleicht kann auch die Redaktion der Schülerzeitung etwas mit zeitgemäßen Werkzeugen anfangen. Von mir aus kann die gerne jemand anderes als Microsoft oder Google liefern, wenn es denn jemand anderes kann. Solche Diskussionen müssen aber auf dem Stand der Technik geführt werden und nicht auf der Basis von Fake News. Stand der Technik sind integrierte Lösungen, die Arbeit erleichtern, und nicht zusammengewürfelte Sammlungen halbgarer Me-too-Produkte. Mal schnell für ein paar Euro Open-Source-Software aufzusetzen, die gerade auf der Anwendungsebene oft hinterherhinkt, rettet uns nicht.


P.S. (2021-01-17) Im Golem.de-Diskussionsforum findet User Oktavian diese schöne Metapher:
„Als Bauherr möchte ich ein Haus. Der Bauträger bietet mir ein Haus gebaut nach meinen Wünschen an. Du möchtest mir einen Bagger liefern, Steine, einen Kran und Dachziegel. Daraus kann ich mir bestimmt ein Haus bauen, aber dann brauche ich noch Bauarbeiter, einen Plan, Genehmigungen, ein Grundstück, einen Architekten, einen Statiker und habe das Risiko, dass alles nicht funktioniert. Was glaubst Du wohl, wessen Angebot ich reizvoller finde?“
Und auch sonst dreht sich die Diskussion dort um die hier angesprochenen Punkte.

Scheinalternative Manufaktur-EDV

„Es gibt sie noch, die guten Dinge“, wirbt ein Einzelhändler, der sich auf altmodische, handgefertigte Haushaltswaren spezialisiert hat. Wer es geil findet, einen Tischfernsprecher W 48 – außen Bakelit®, innen solide Nachkriegselektrik, Digitalkonverter separat erhältlich – in sein Wohnzimmer zu stellen oder den Rasen seines Anwesens mit einem handbetriebenen Spindelmäher kurz zu halten, wird dort zu gesalzenen Preisen fündig.

Nüchtern betrachtet ergibt solch ein Kauf wenig Sinn. In derselben Preisklasse bekommt man als Gegenwartstechnik ein Smartphone oder einen Mähroboter und damit viel mehr Leistung für sein Geld. Der bloße Kauf eines altmodischen Manufakturprodukts mag noch wie eine Geschmackssache wirken, in der man sich willkürlich so oder so entscheiden kann. Doch über die Nutzungsdauer betrachtet zahlt man beim Manufakturprodukt verglichen mit seinen zeitgemäßen Nachfolgern fortwährend drauf. Deswegen kaufen Menschen nur dann „die guten Dinge“, wenn ihnen diese Folgekosten egal sind, etwa weil es sich um ein Geschenk mit externalisierten Kosten handelt oder weil sie mit einem Statussymbol unaufdringlich Vermögen demonstrieren möchten.

„Es gibt sie noch, die guten Dinge“, behaupten auch Technik- und Kulturpessimisten, denen der Fortschritt zu schnell fortschreitet und ob das denn nötig sei und nicht am Ende unsere Jugend verdürbe. Die guten Dinge, das sind ihnen Telefonate statt Videokonferenzen, selbst betriebene Open-Source-Anwendungen, Endgeräte und Anwendungen ohne Telemetrie und dergleichen mehr. Der Rest der Welt hat sich derweil an Videokonferenzen gewöhnt, wartet sehnlichst darauf, dass öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Ämter endlich in der IT-Gegenwart ankommen, und nutzt selbstverständlich Anwendungen und Plattformen aus der Steckdose.

Die angeblich guten Dinge ähneln ihren Vorbildern aus dem Reich der Haushaltswaren. Wäre das Telefon eine ebenbürtige Alternative zur Videokonferenz, gäbe niemand Geld für Videokonferenzdienste aus. Dass es doch alle tun, liegt daran, dass es sich eben nicht nur um eine Art Bildtelefon handelt, sondern um Anwendungen für multimediale 1:n- und m:n-Kommunikation. Wo das Telefon genügt, greifen Menschen von alleine zu diesem, aber das Telefon kann im Vergleich zur Videokonferenz ungefähr so viel wie ein Tischfernsprecher W 48 im Vergleich zum Smartphone.

Auch Telemetrie und Cloud Computing entspringen nicht etwa einem gemeinen Weltherrschaftsplan amerikanischer Überwachungskapitalisten, sondern schlicht technisch-ökonomischem Fortschritt, der selbst und autark betriebene Anwendungen nach und nach zu einem Thema für die Geschichtsbücher macht. Dahinter steckt ein Prozess der Kommoditisierung, den jede Infrastrukturinnovation durchläuft. Anwendungen wandern im aus denselben Gründen von eigenen Servern in die Cloud, aus denen einst Dampfmaschinen in Kraftwerke und die Inhalte von Sparstrümpfen auf Bankkonten wanderten: Weil es möglich wurde und sich als effizienter erwies.

Die Vorteile sind offensichtlich. Dieses Blog hier zum Beispiel läuft komplett in der Cloud, bei wordpress.com. Ich muss mich um nichts anderes kümmern als die Inhalte: keine Server betreiben, keine Software installieren, keine Updates einspielen, kein Backup machen, nicht nach Einbrüchen aufräumen. Ich muss mir nur mein Passwort merken und, wenn ich es schön haben möchte, jedes Jahr ein paar Euro bezahlen. Alles selbst zu machen, wäre in der Summe teurer bei einem schlechteren Ergebnis, deshalb lasse ich das.

Dass dieses Geschäft funktioniert, liegt an Skaleneffekten: Durch Massenproduktion sinken die Kosten pro Stück. WordPress.com betreibt mein Blog nicht auf dieselbe Weise, wie ich es tun würde, also mit einem dedizierten und individuell administrierten Server, sondern auf einer eine Plattform mit Millionen von Blogs und Benutzern. Die Grenzkosten für ein einzelnes Blog verschwinden praktisch. Deshalb kann wordpress.com jeden Aufwand unterbieten, den ich für die Leistung „funktionierendes Blog“ in derselben Qualität betreiben müsste. Manufaktur ist teurer als Massenproduktion, in der Anschaffung wie im Betrieb.

Der Trend zum Software-Service betrifft nicht nur Anwendungen, sondern auch das, was wir früher Betriebssystem nannten und was heute den Charakter eine Managed Platform hat. Früher baute man seine Computersysteme selbst: schaffte Hardware an, installierte Betriebssysteme darauf und schließlich Anwendungsprogramme, organisierte den Betrieb des teuren Geräts zum Beispiel mit regelmäßigen Datensicherungen und Virenscans. Wer wollte, konnte den Computer später für einen anderen Zweck verwenden, indem er diesen Prozess mit demselben oder einem anderen Betriebssystem und neuen Anwendungen erneut begann.

Heute sind Geräte austauschbar und Betriebssysteme eine Dienstleistung. Wir haben Benutzerkonten bei Apple/Google/Microsoft, die wir mal mit diesem, mal mit jenem Gerät nutzen. Kommt mal ein Gerät weg, tritt man es online aus allen Diensten raus, stellt ein neues hin und macht dort weiter, wo man aufgehört hatte. An der Software der Endgeräte herumzubasteln, macht noch weniger Sinn als ein eigener Anwendungsbetrieb.

Themen wie Telemetrie in Windows und Office oder auch Apples automatischer Sicherheitscheck beim Programmstart, der neulich einen kurzen Aufruhr auslöste, muss man in diesem Kontext betrachten. Es hat keinen Sinn mehr, sich über „nach Hause telefonierende“ Software zu erregen. Der Normalfall ist, dass Software in der Cloud läuft und dort betreut und weiterentwickelt wird; teilautonome Endgeräte werden stattdessen als Näherungslösung so an die Cloud angeschlossen, dass man ihren Benutzern trotzdem Stress mit der Systemadministration ersparen kann. Und das ist gut, denn inzwischen kann man auch Laien einen Internetapparat anvertrauen, ohne ständig auf sie aufpassen zu müssen.

In der konsequentesten Umsetzung bekommt man am Ende einen Thin Client wie Googles Chromebook als Interface zur Cloud, bei dem lokale Anwendungen keine Rolle mehr spielen. Dann bereitet das einzelne Gerät praktisch keinen Administrationsaufwand mehr, weil es nur noch einen Browser booten muss, der durch ein Benutzerlogin an einem Cloudservice personalisiert wird. Damit lässt sich zum Beispiel ein Laptopverleih organisieren, wie ihn die ULB Darmstadt anbietet. Einige sind der Ansicht, dass dies auch für den Schulbetrieb genau der richtige Ansatz sei.

Wer unbedingt in einem Gefühl digitaler Souveränität schwelgen möchte, kann das alles auch nachbauen. Das wird jedoch voraussichtlich ein teures und zeitraubendes Projekt. Man bekommt eben nicht dasselbe, indem man mal schnell einen Linux-Server mit ein paar Open-Source-Paketen aufsetzt, sondern müsste schon das ganze System und dessen Betrieb replizieren und außerdem in die Weiterentwicklung investieren wie ein etablierter Cloudversorger. Das kann man tun, aber es ist nicht die beste Idee, wenn man gerade etliche Jahre verschlafen hat und einen nun auch noch eine Viruspandemie zu schnellem Handeln zwingt. Obendrein hält ein in der Hinterhofwerkstatt aus Subprime-Software zusammengefrickeltes System in Sachen SIcherheit und Datenschutz nicht unbedingt, was seine Verfechter versprechen. So fiel die häufig genannte Videokonferenzsoftware Big Blue Button kürzlich mit langen Reaktionszeiten auf gemeldete Sicherheitsmängel auf. Dort hätte man also nachzuarbeiten.

Es gibt sie noch, die guten Dinge, doch sie sind gar nicht gut, sondern alt, rückständig, umständlich produziert. Dennoch empfohlen werden sie als Scheinalternative von Akteuren, denen niemand die Kosten ihrer Ratschläge in Rechnung stellt, die sich jedoch eigene – nicht-monetäre – Gewinne erhoffen. Datenschutzbeauftragte sollen schnellen Fortschritt in der IT nicht fördern, sondern bremsen und ihre Arbeit beruht auf Gesetzen und Traditionen, welche die Datenverarbeitung unter den Generalverdacht der Grundrechtsgefährdung stellen. Vereinsinformatiker können sich umso wichtiger fühlen, je komplizierter Informationstechnik zu nutzen ist, je exklusiver also ihre Expertise bleibt. Verbraucherschützer benötigen einen Antagonisten, und sei es ein erfundener wie die „Prägung“ von Schülerinnen und Schülern auf Microsoft-Produkte und die angebliche Vermarktung ihrer Verhaltensdaten durch Microsoft. All jene, die tatsächliche Kosten gegen den tatsächlichen Nutzen abwägen müssen, sind mit zeitgemäßen Services besser bedient als mit Manufakturalternativen. Wer nicht möchte, dass deren Anbieter Microsoft oder Google heißen, muss konkurrenzfähige Alternativen als Dienstleistung anbieten und nicht Software zum Selbermachen empfehlen.

In der Doppelbotschaft verheddert

Wer WhatsApp oder Facebook nutze, könne bedenkenlos auch die Corona-Warn-App installieren, tönt es durchs Netz – das stimmt zwar vielleicht trotz der Bedenken um Einlasskontrollen, ist aber dennoch kein gutes Argument.

Einige Schlaumeier erklären uns gerade, wer WhatsApp et al. nutze, könne getrost auch die Corona-Warn-App installieren oder wer angesichts der Corona-Warn-App Überwachungsangst verspüre, müsse konsequenterweise auch auf WhatsApp et al. verzichten. Hier zum Beispiel:

und da und dort. Das ist nett gemeint, führt jedoch nicht weit, denn es handelt sich um eine widersprüchliche Doppelbotschaft. Ihre Adressaten sollen entweder die Harmlosigkeit der Corona-Warn-App anerkennen und dann auch WhatsApp benutzen dürfen, oder sie sollen die Gefährlichkeit von WhatsApp anerkennen und dann auf beide verzichten. Unausgesprochen, weil sie nicht so gut ins Argument passt, bleibt die Option, die Corona-Warn-App zu nutzen, WhatsApp jedoch nicht.

Wahrheitstabelle der Implikation WhatsApp → CWA

Formallogisch scheint zunächst alles in Ordnung. Es handelt sich um die Implikation: „wenn WhatsApp dann Corona-Warn-App“. Widersprüche tun sich erst beim Versuch auf, den so als falsch deklarierten Fall zu rechtfertigen, dass jemand WhatsApp nutzt, aber die Corona-Warn-App ablehnt. Das geht, aber man muss dazu diese Implikation zurückweisen. Mehrere Möglichkeiten bieten sich an.

Man könnte trotzig antworten, man wolle halt das eine und das andere nicht. Dabei stünde man immerhin mit beiden Beinen fest auf dem Boden der informationellen Selbstbestimmung, die genau diese Entscheidungsfreiheit gewährt und keine Begründung verlangt. Gehört man selbst nicht zur Gruppe derjenigen, die WhatsApp nutzen, aber die Corona-Warn-App ablehnen, könnte man auch mit der empirisch-statistischen Frage antworten, ob die angesprochene Gruppe überhaupt in einem nennenswerten Umfang existiere. Möglicherweise sind die meisten Aluhutträger tatsächlich so konsequent, auch einen anderen Messenger als WhatsApp einzusetzen, oder tragen ihren Aluhut erst, seit sie Telegram für sich entdeckt haben.

Man könnte auch analytisch antworten, die Verengung auf das Merkmal Datenschutz sei unangemessen, In Wirklichkeit handele es sich um eine mehrdimensionale Kosten-Nutzen- und Risiko-Nutzen-Abwägung, welche in diesem Fall so und in jenem anders ausfalle. Schließlich verspricht WhatsApp einen erheblichen persönlichen Vorteil, während der Nutzen der Corona-Warn-App vorwiegend als externer Effekt in der Gesellschaft eintritt.

Wer dezente Gemeinheit nicht scheut, kann zu guter Letzt auch sein Gegenüber im eigenen Argument einwickeln: Man habe jetzt jahrelang immer wieder die Gefahren von WhatsApp gepredigt, ohne dass viel passiert sein – wo solle nun die Glaubwürdigkeit herkommen, zumal man über die Corona-Warn-App auch noch das genaue Gegenteil  sage? Oder anders verpackt in Abwandlung des gestrigen Tagesthemen-Kommentars:

„Diejenigen, die die App kategorisch empfehlen, weil sie zu Recht keine Gefahren befürchten, sollten bitte auch mal kurz prüfen, ob sie WhatsApp oder Facebook ablehnen.“

Wendet das Gegenüber daraufhin ein, dies sei doch etwas völlig anderes, nickt man nur noch andächtig und sagt: „Genau.“ Wer mag, kann noch einen Treffer landen mit der Frage, wieso angesichts der Corona-Warn-App jetzt auf einmal die Gefahr und die (Un-)Zulässigkeit von Einlasskontrollen anhand der App diskutiert werde, während WhatsApp über ein Jahrzehnt nie jemanden auf diese Idee gebracht habe.

Nein, dass jemand WhatsApp nutzt, ist kein gutes Argument dafür, auch die Corona-Warn-App zu nutzen. Dass viele Menschen WhatsApp nutzen, ohne sich große Sorgen zu machen und wohl auch, ohne objektive Nachteile aufgrund mangelnden Datenschutzes zu erleiden oder zu verursachen, sollte uns hingegen Anlass sein, unser Verständnis und unsere Prioritäten nachzujustieren. WhatsApp und andere zeigen, dass Erfolg auch gegen die Kritik der Datenschützer möglich ist. Die Corona-Warn-App wird uns zeigen, wo die Grenzen mit dem Segen der Datenschützer liegen. Statt Populismus zu betreiben, sollten wir uns mehr mit den tatsächlichen, vieldimensionalen Erfolgsvoraussetzungen von Anwendungen beschäftigen und mit den Gestaltungsprozessen, die Anforderungen erkunden, abwägen und umsetzen.

Datenschützer im eigenen Saft

Unsere Datenschützer zeigen in der Krise, was sie können: Memetik, Bürokratie und Realitätsverlust. In der Tradition der 1970er/80er Jahre halten sie die elektronische Datenverarbeitung für eine Risikotechnologie vergleichbar der Kernkraft, die es mit allen Mitten einzudämmen gelte. Über die Jahre haben sich vorläufige Antworten auf einst berechtigte Fragen zu Memen verselbständigt, die man nur noch unreflektiert wiederkäut. Als Begründung des eigenen Treibens hat man sich in den ätherischen Wert unserer Rechte und Freiheiten verirrt, der alles und nichts begründen kann und jede Falsifikation zu Lasten der Datenschützer ausschließt, ihnen zugleich jedoch die Illusion vermittelt, stellvertretend für uns unsere Grundrechte wahrzunehmen.

Die aktuelle Corona-Pandemie stellt vieles auf den Kopf und lässt uns keine andere Wahl als unseren Digitalisierungsrückstand endlich zu verringern. Mehr Kartenzahlung, mehr Fernarbeit, mehr digitale Kommunikation und Kollaboration, Corona-Apps, Hackathons und vielleicht irgendwann sogar mehr E-Government – wir machen nach einer langen bleiernen Zeit gerade einen großen Sprung in Richtung Gegenwart. Nicht alles wird funktionieren wie erhofft oder versprochen, aber nach einem Vierteljahrhundert Internet für alle dürfen wir guten Gewissens überwiegend positive Auswirkungen erwarten.

Auch Datenschützer können dieser Entwicklung einiges abgewinnen, gibt sie ihnen doch – publish or perish – reichlich Gelegenheit, sich mahnend zu äußern. Davon machen sie effizient Gebrauch und wiederholen ihre ewiggleichen Meme, ohne sich um lästige Einzelheiten wie Kohärenz oder nachvollziehbare Begründungen zu kümmern.

So veröffentlicht etwa der Berliner Datenschutzbeauftragte eine mahnende Handreichung nebst Checkliste für die „Durchführung von Videokonferenzen während der Kontaktbeschränkungen“. Der Inhalt überzeugt nicht. Während seine Handreichung die Bedeutung einer verschlüsselten Übertragung herausstreicht, rät die Checkliste, das mit den Videokonferenzen am besten ganz zu lassen und möglichst zu telefonieren. Wie man jedoch verschlüsselt telefoniert, erklärt der Beauftragte nicht und wenn er es täte, lachten wir ihn aus, denn gemessen an Aufwand und Nutzen haben verschlüsselte Telefonate nur in Ausnahmefällen einen Sinn. Warum das bei einer Videokonferenz anders sei, erläutert er nicht und auch eine praktisch relevante Risikoreduktion durch die empfohlenen Maßnahmen kann er nicht belegen.

Überhaupt fehlt den Papieren eine plausible Risiko- und Bedrohungsanalyse und damit die Begründung. Stattdessen stecken alte Meme darin. Videokameras gelten den Datenschützern traditionell als verdächtig, wenn auch zuvörderst beim Einsatz zur Videoüberwachung. Später kam der Trend hinzu, Laptop-Kameras ostentativ zuzuklebensinnlos, aber sichtbar und leicht nachzuahmen. Auch der digitale Veganismus – der Datenschutzbeauftragte rät, existierende Dienste zu meiden und besser selbst einen aufzusetzen – hat eine lange Tradition.

Wie sehr diese Meme und Phrasen in der Vergangenheit verhaftet sind, wird deutlich, wenn man sie mit dem Stand der Technik abgleicht. Wenig haben die Offiziellen etwa zum gemeinsamen Bearbeiten von Dokumenten zu sagen. Das ist zwar seit vielen Jahren Stand der Technik und mindestens so nützlich wie Videokonferenzen, bei den alten Männern mit Röhrenbildschirmen in den Datenschutzbüros jedoch noch nicht angekommen. Schließlich wollen sie Vorbild gemäß ihrem Weltbild sein und agieren im Umgang mit der IT daher so übervorsichtig, dass es einer Selbstblockade gleichkommt. Dasselbe empfehlen sie allen anderen.

Wo sich der IT-Einsatz nicht ganz verhindern lässt, versucht man ihn in Bürokratie zu ersticken. Dies demonstrierten vor einigen Tagen Datenschutz-Aktivistinnen im Namen des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF): Zur laufenden Diskussion um den Einsatz von Smartphone-Apps zur Kontaktverfolgung im Rahmen der Seuchenbekämpfung legten sie eine sage und schreibe hundertseitige Datenschutz-Folgenabschätzung vor – für ein Phantom, denn bisher liegt kein ausgereiftes Einsatzkonzept für eine solche App vor, auf das sich eine qualifizierte Diskussion stützen könnte. So weit es sich beim Überfliegen dieses Konvoluts mit normativem Anspruch einschätzen lässt, steht darin kein relevanter Einwand, den nicht Susan Landau oder Ross Anderson knapper formuliert hätten. Auf die Idee, Datenschutzprobleme institutionell zu dämpfen, wie es bei der Erhaltung und Verharmlosung der Stasi-Akten gelungen ist, kommen die Aktivistinnen wohl gar nicht erst.

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Falsch abgebogen ist der Datenschutz früh in seiner Geschichte und sein Geburtsfehler wurde nie richtig korrigiert. Als der Datenschutz vor vier, fünf Jahrzehnten das Licht der Welt erblickte, entdeckte die Welt gerade die Schattenseiten damals moderner Großtechnologien wie der Kernenergie. Etwa zeitgleich mit den ersten Schritten zum Datenschutz entwickelte sich die Technikfolgenabschätzung, schrammte ein Kernreaktor in Harrisburg knapp an einer größeren Katastrophe vorbei, malte Robert Jungk den dann doch nicht eingetretenen Atomstaat an die Wand. Nebenbei herrschte noch kalter Krieg, der jederzeit in einen heißen letzten Weltkrieg münden konnte.

In diese Zeit fiel die zunehmende Verbreitung der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) in Wirtschaft und Verwaltung. Auf dem Weg ins EDV-Zeitalter, so hofften viele, würde man alles besser machen als bei der Einführung anderer Großtechnologien, in die man scheinbar euphorisch und blind für ihre Gefahren hineingestolpert war.

Seither gehört zum Fundament des deutsch-europäischen Datenschutzes der Glaube, die elektronische Verarbeitung von (personenbezogenen) Daten sei eine Risikotechnologie vergleichbar der Kernkraft; man müsse sie ähnlich streng regulieren und überwachen sowie sorgfältig und umfassend technisch absichern. Genau genommen müsste man sie sogar verbieten, und genau davon geht der Datenschutz bis heute aus – die Verarbeitung personenbezogener Daten sei in der Regel verboten, sofern die nicht ausnahmsweise doch erlaubt sei. Diese Grundannahme erklärt, warum Datenschützer zum Beispiel so ein Theater um WhatsApp und dessen Nutzung persönlicher digitaler Adressbücher machen, obwohl sich außer ihnen kein Mensch daran stört und wohl auch niemand tatsächlich dadurch gefährdet wird. Für Datenschützer steht die IT traditionell unter Generalverdacht.

Heute steht Deutschland kurz davor, seine letzten Kernkraftwerke abzuschalten, während sich das Verbrennen von Kohle als eine viel größere und schwerer zu bändigende Gefahr erwiesen hat. Daneben meldet sich die Natur mit einem neuen Coronavirus, welches im Gegensatz zur EDV Menschenleben bedroht und mangels Impfstoff oder Heilmittel Vorsichtsmaßnahmen verlangt, die tief in unser gewohntes Leben und unsere bürgerlichen Freiheiten eingreifen. Doch unverdrossen verkauft uns eine Allianz aus Aktivisten, Datenschutzbeauftragten und Opportunisten den Datenschutz als Supergrundrecht und die Datenverarbeitung als explosive Risikotechnologie, von der man am besten die Finger lasse.

Anders als bei jeder anderen Risikotechnologie, deren Schäden sich als Sach- und Personenschäden quantifizieren lassen, fehlt dem Datenschutz und der fundamentalen EDV-Kritik jedoch ein klarer Risikomaßstab. An seine Stelle trat die radikale Vorsorge eines generellen Verbots der personenbezogenen Datenverarbeitung mit Ausnahmen, vergleichbar den Regeln für den Betrieb kerntechnischer Anlagen, die einer Genehmigung bedürfen.

Die Entscheidung über Ausnahmen legte man teils in die Hände des Gesetzgebers und teils in die der Betroffenen. So ward die informationelle Selbstbestimmung geboren, die das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Volkszählungsurteil in den Rang eines Grundrechts erhob. In den folgenden Jahrzehnten unterblieben nötige Modernisierungen des Datenschutzes weitgehend und auch die DSGVO hat noch viel mit dem alten (west-)deutschen Bundesdatenschutzgesetz gemein.

Die IT entwickelte sich schnell weiter und entfernte sich nach und nach von den Voraussetzungen des etablierten Datenschutz, was man ihr nicht verübeln kann. Zugleich eigneten sich die Träger des Datenschutzes, die Beauftragten und Aktivisten, das Grundrecht der Betroffenen an und beanspruchen seither dessen stellvertretende Wahrnehmung. Mit dieser Waffe in der Hand müssen sie keine Kritik mehr fürchten, denn zum einen bleiben die Grundrechte zu abstrakt, um damit direkt und einfach argumentieren zu können, und zum anderen bedarf die Inanspruchnahme von Grundrechten – im Regelfall anders als im Datenschutz durch ihre Trägerinnen selbst – keiner Rechtfertigung. Begleitend entstand über die Jahre mit Anbietern von Compliance-Dienstleistungen ein Wirtschaftszweig, der von möglichst willkürlichen und bürokratischen Anforderungen profitiert und der deshalb um so andächtiger nickt als die Nachfrage nach seinen Angeboten steigt.

Deswegen werden wir jetzt vor Videokonferenzen gewarnt, besonders vor den einfach zu nutzenden. Ob jemals eine Videokonferenz jemandem ein Haar gekrümmt hat, bleibt offen, denn auf reale Risiken kommt es dem Datenschutz nicht an. Er begründet sich aus sich selbst und immunisiert sich damit gegen Kritik, ja sogar gegen die bloße Sinnfrage.

 

PS (2020-05-06): Microsoft weist die Warnungen des Berliner Datenschutzbeauftragten für seine Produkte ausdrücklich zurück.

PS (2020-05-16): Microsoft geht den nächsten Schritt und mahnt Berlin ab.

Digitaler Veganismus

Kelbers wohlfeile Datenschutztipps an die falsche Adresse sehe ich als Symptom eines allgemeineren Trends. Nicht nur suchen sich amtliche Datenschützer mit den Bürgerinnen und Bürgern die falsche Zielgruppe, sie verbreiten dabei auch gerne fragwürdige Verhaltensmaßregeln, die zu ignorieren meist sehr vernünftig scheint. Ich nenne diese Maßregeln digitalen Veganismus, weil sie willkürlich sind, nur eine ideologische Begründung haben und sie den Alltag erschweren, ohne nennenswerten Nutzen zu stiften.

Veganer können nicht einfach zum Bäcker gehen und ein Brot kaufen, sondern müssen dort erst die Zutatenliste studieren, um herauszufinden, ob nicht jemand einen Schluck Milch oder einen Löffel Butter oder eine unglückliche Küchenschabe in den Teig gerührt hat. Glücklich wird, wer sich dabei einen Distinktionsgewinn einreden kann; die meisten Menschen hingegen kaufen einfach das Brot, das ihnen schmeckt und sind damit zufrieden. Als individuell gewählte Lebensweise ist das eine wie das andere völlig in Ordnung. Öffentliche Stellen, die den Veganismus empfählen, gibt es meines Wissens nicht.

Im Datenschutz hingegen geben Aufsichtsbehörden, Universitäten, Aktivist*innen und andere nur zu gerne Tipps für das, was sie gerne „digitale Selbstverteidigung“ nennen. Im Wesentlichen laufen diese Tipps meist darauf hinaus, sich allerorten von „Datenkraken“ verfolgt zu fühlen und Zuflucht in einem digitalen Aluhut in Form originellen, das heißt von den Gebräuchen des Mainstreams abweichenden Verhaltensweisen zu suchen. Das Angebot Data Kids der Berliner Datenschutzbeauftragten zum Beispiel warnt vor „diebi­schen dreis­ten Daten­wolken“ und „Krakina Kompli­zia“ und empfiehlt dagegen das Ritual, eine Abdeckung für eine Kamera zu bauen als sei der meist nur eingebildete Kameramann im Laptop ein relevantes Problem. Wie man dagegen rechtzeitig bemerkt, dass ein Kammergericht in ihrem Zuständigkeitsbereich in Sachen Sicherheit und Datenschutz nicht einmal näherungsweise auf der Höhe der Zeit ist, weiß die Beauftragte anscheinend  nicht, sonst hätte sie es ja bemerkt. Das ist freilich auch etwas anspruchsvoller als Kindern das Märchen von Krakina Komplizia und den sieben Clouds zu erzählen.

An die ewigen Warnungen offizieller Datenschützer, WhatsApp sei haram, weil es Adressbücher aus einer Cloud in eine andere hochlade, haben wir uns gewöhnt. Kein Mensch schert sich darum; WhatsApp ist so alltäglich geworden wie das Telefon, weil es umstandslos und ohne Schmerzen (naja) funktioniert. Nur wo die Datenschützer Macht haben, ist WhatsApp abweichend vom Normalen verboten – man möge bitteschön Alternativen nutzen.

Auf diesem Niveau bewegen sich die meisten Empfehlungen aus dem Reich des digitalen Veganismus: andere Messenger als die meisten Menschen möge man benutzen, einen anderen Browser, ein anderes Betriebssystem, andere Suchmaschinen und andere Landkarten. Seine E-Mail möge man verschlüsseln, die Cloud links liegenlassen und bei Bedarf besser eine eigene betreiben als hätte man alle Zeit der Welt und nichts Wichtigeres zu tun. Und wer einen Termin mit anderen abstimmen wolle, solle nicht irgendeinen Terminplaner benutzen, sondern bitteschön Nuudle, am besten mit dem Tor-Browser über das Tor-Netz (im Volksmund Darknet genannt).

Einen objektiven Nutzen hat diese Kasteiung nicht, doch kann man sich selbst dafür belohnen, indem man sich einredet, zu den Erleuchteten zu gehören und im Gegensatz zur vermeintlich blöden Masse der „Sheeple“ das Richtige zu tun. Das ist zwar ziemlich arrogant, aber wer diesen Teil im Stillen abwickelt und nach außen nur seine oberflächlich als hilfreich und wohlmeinend verpackten Ratschläge zeigt, bekommt wenig Gegenwind. Wenig Erfolg auch, denn die meisten Menschen fragen sich hier ebenso wie im Angesicht eines Zutatenlisten wälzenden Veganers, was das denn solle und bringe, warum sie sich so etwas antun sollten. Erfolg ist jedoch gar nicht gewollt, denn er würde alles zerstören: Begänne eine Mehrheit damit, den Ratschlägen zu folgen, wäre das Wohlgefühl der Ratgeber dahin.

PS (2020-04-27): Die Schattenseiten der gerne als gleichwertig hingestellten Alternativen werden im Artikel Endlich glückliche Freunde bei Golem.de deutlich. Dort geht es um den Messenger Signal, der WhatsApp im Funktionsumfang merklich hinterherläuft. Darin findet sich zudem ein Verweis auf den älteren Artikel Wie ich die Digitalisierung meiner Familie verpasste, dessen Autor beschreibt, wie er sich durch WhatsApp-Verweigerung aus der Kommunikation seiner Familie ausschloss.

PS (2020-07-06): Selbst wer keine bunten Bildchen braucht, wird mit Signal nicht unbedingt glücklich.

Datenschutz durch Publikumsbeschimpfung

Ulrich Kelber, der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, empfiehlt in einem Interview der Welt Zurückhaltung bei der Nutzung von Apps und behauptet in diesem Zusammenhang, es gebe altersunabhängig fünf „Daten-Typen“:

„Den Ahnungslosen, der schlicht keine Vorstellung von den Risiken hat. Den Sorglosen, der blind vertraut. Den Gleichgültigen, der die Gefahren kennt, sich aber nicht davor schützt. Den Abstinenzler, der sich ohnehin außerhalb der digitalen Welt bewegt. Und den Digitalprofi, der tatsächlich etwas unternimmt.“

(„Wir rücken nicht von der Strafe ab. Was wäre das für ein Signal?“, welt.de, 2020-01-29)

Die größte Sorge, fährt er fort, bereite den Datenschützern die Gruppe der Sorglosen.

Diese Aussagen sind ein Meisterwerk der eristischen Dialektik, inhaltlich aber ein Irrweg. Kelber konstruiert einen Gegensatz zwischen negativ konnotierten Zuschreibungen – ahnungslos, sorglos, gleichgültig – auf der einen und akzeptablem Verhalten – Abstinenz – sowie einer unerreichbar vorbildlichen Heldenfigur – dem Digitalprofi, der etwas (was?) unternimmt – auf der anderen Seite.

In Kelbers Aufzählung fehlt zum Beispiel der Digitalprofi, der die Risiken oder das Verhältnis zwischen Risiken und Nutzen anders einschätzt als ein Datenschutzbeauftragter, dem Nutzenerwägungen von Amts wegen fern liegen. Ebenso fehlt der Normalbürger, der seinem Gegenüber selbstverständlich Vertrauen entgegenbringt, nicht blind und bedingungslos, sondern in der üblichen Weise: als positives Vorurteil, das die soziale Interaktion erleichtert, solange es nicht durch negative Erlebnisse erschüttert wird. Wir alle handeln so, wenn wir zum Beispiel ohne Brustpanzer aus dem Haus gehen und darauf vertrauen, dass uns auch heute niemand ein Messer zwischen die Rippen rammen oder mit einem Stein den Schädel zertrümmern werde.

Dass die ewigen Mahnungen der Datenschützer dieses Vertrauen nur selten erschüttern, liegt nicht zuletzt an ihnen selbst, bleiben sie doch oft vage und unbelegt. Wie oft haben wir zu hören bekommen, WhatsApp zum Beispiel sei haram, weil es Adressbücher aus der Cloud in die Cloud hochlade, und was die amerikanischen Datenkraken alles Böses trieben, und wie oft hat tatsächlich jemand handfeste negative Auswirkungen zu spüren bekommen, der moderne Dienste und Geräte sorglos nutzt? Wo Risikoszenarien plausibel, nachvollziehbar und durch reale Fälle belegt sind, nimmt die Sorglosigkeit erfahrungsgemäß ab. Polizisten im Einsatz etwa oder Journalisten in Kriegsgebieten tragen selbstverständlich Schutzausrüstung, denn ihre Risiken und Bedrohungen sind offensichtlich und belegt.

Kelbers erster Fehler liegt mithin darin, seinen Schutzbefohlenen Vernunft und Einsicht abzusprechen und ihnen Verhaltensmaßregeln zu erteilen. Die Möglichkeit, dass seine Mitmenschen mehrheitlich rational handelten und er sich irre, zieht er gar nicht in Betracht. Darüber hinaus blickt er in die falsche Richtung, wenn er sich mit den Betroffenen beschäftigt statt mit den Verarbeitern und Verantwortlichen.

Datenschutz ist für alle da, auch für die Sorg- und Ahnungslosen und die Gleichgültigen. Er soll die personenbezogene Datenverarbeitung im Zaum halten, um unsere Rechte und Freiheiten vor negativen Auswirkungen zu schützen. Aus dieser Sicht kann es sogar sinnvoll sein, auch vage und unbelegte Risiken zu berücksichtigen, doch alle Bemühungen müssen sich dann auf die Verarbeitung selbst konzentrieren. Aufgabe der Datenschutzaufsicht ist, Recht und Ordnung in Unternehmen, Behörden und anderen Organisationen durchzusetzen. Stattdessen den Betroffenen Ratschläge zu erteilen, wirkt demgegenüber wie eine Bankrotterklärung: Anscheinend gelingt es den Datenschützern schon nach eigener Einschätzung nicht, das Internet so vertrauenswürdig zu machen wie den Stadtpark, dessen sorg- und ahnungsloses oder gleichgültiges Betreten man niemandem vorwerfen könnte, ohne schallend ausgelacht zu werden.

Kelbers zweiter Fehler ist deshalb, dass er die falsche Zielgruppe anspricht. Er müsste dem Internet sagen, was es darf und was es lassen soll, und nicht dessen Nutzerinnen und Nutzern. Dies allerdings erschwert ihm seine Arbeitsgrundlage, das real existierende Datenschutzrecht. Die Datenschutzgrundverordnung weiß auch nicht so genau, was erlaubt oder verboten sein sollte, sondern sie gibt vor allem vor, wie die Datenverarbeitung zu verwalten sei. Trotz eines nominellen Verbots der Verarbeitung personenbezogener Daten mit Erlaubnisvorbehalt, wie wir es bereits aus dem alten Bundesdatenschutzgesetz kennen, ist in der Praxis vieles erlaubt, solange die Verantwortlichen nur jederzeit alle Papiere vorzeigen können und sich nicht bei groben Schnitzern erwischen lassen. Das liegt nicht am Datenschutzbeauftragten, aber wenn es ein Problem gibt, liegt es hier.

Auch für Europa mit seiner stolzen DSGVO gilt, was Bruce Schneier vor einigen Tagen in einem Kommentar zur Aufregung um die Gesichtserkennung der Firma Clearview schrieb: Wir brauchen Regeln für alle wesentlichen Fragen der Datenverarbeitung, die sich an die Verarbeiter richten. Im Fall von Clearview sind das nach Schneiers Auffassung erstens Regeln dafür, unter welchen Bedingungen Unternehmen Personen identifizieren dürfen, zweitens Regeln für die Kombination von Daten und den Handel damit ohne Zustimmung und Kenntnis der Betroffenen, sowie drittens Regeln dafür, unter welchen Bedingungen Unternehmen Personen diskriminieren dürfen. Blickt man über den konkreten Fall von ClearView hinaus, kommen sicher noch einige Fragen hinzu. Die DSGVO bekleckert sich in dieser Hinsicht nicht mit Ruhm, ihre Vorgaben bleiben oft vage und unspezifisch. Kelber sieht keinen grundlegenden Änderungsbedarf, doch der liegt genau hier und nicht bei gleichgültigen, ahnungs- oder sorglosen Nutzerinnen und Nutzern.